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Fahrrad-Demo von Serbien nach Straßburg

16 Minuten Stille für 16 Tote

Fahrrad-Demo von Serbien nach Straßburg: 16 Minuten Stille für 16 Tote
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 Fotos: Jens Volle 

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Seit Monaten demonstrieren in Serbien Zigtausende gegen Korruption und Machtmissbrauch. Die Demo-Bilder gehen um die Welt, doch die EU interessiert sich wenig dafür. Darum haben sich serbische Studierende per Rad auf den Weg nach Straßburg gemacht – mit Stopp in Stuttgart.

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Konkrete Forderungen sind es nicht, die der Sportstudent Mihajlo Jovanović aus Belgrad im Gepäck hat. "Wir hoffen, dass das Europäische Parlament und die Europäische Union in irgendeiner Weise tätig werden, um unser Land zu etwas zu bewegen", sagt der serbische Student, der mit rund 80 Kommiliton:innen seit dem 3. April per Rad unterwegs ist nach Straßburg. Am vergangenen Sonntag, dem 13. April machten sie auf dem Marienplatz in Stuttgart Halt.

Vor allem die serbische Diaspora war gekommen, um ihre Landsleute zu empfangen. Rund 600 vor allem junge Frauen und Männer versammelten sich an diesem Nachmittag, die Stimmung ist entspannt, es gibt Essen und Getränke, immer wieder werden Parolen angestimmt, es läuft Musik, man diskutiert und lacht viel. Die Anwesenden erzählen, dass ihnen die serbischen Studierenden und ihre Protestbewegung Hoffnung geben. Es ist eine Solidarität, die unter den emigrierten Serb:innen nicht mit Selbstkritik spart, wie bei Miłosz, der Teil der serbischen Diaspora in Budapest ist und mit seinen drei Kindern beim Empfang der Fahrradgruppe dort dabei war: "Wir haben nicht getan, was getan werden muss, also müssen es jetzt die Studierenden tun." Die Menge wartet geduldig auf den sich verspätenden Fahrradkorso. Plötzlich ein Aufruf: Die 600 Menschen werden gebeten, 16 Minuten lang zu schweigen. Eine Gänsehautstille legt sich über den Platz

Die Menge gedenkt damit der 16 Menschen, die beim Einsturz des Bahnhofsgebäudes in Novi Sad am 1. November letzten Jahres ums Leben kamen. Erst vier Monate zuvor war der Bahnhof renoviert worden. Bereits vier Tage nach dem Einsturz forderten 20.000 Menschen auf einer Demo in Novi Sad den Rücktritt der Verantwortlichen und strafrechtliche Konsequenzen. Gemeint waren Miloš Vučević, der noch in seiner Zeit als Bürgermeister die Sanierung beschlossen hatte und später Ministerpräsident wurde, sowie die regierende rechte Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić. Sie ist verantwortlich für die Deregulierung der Bauaufsicht in Serbien zugunsten von Investoren. Damals prophezeite Marko Miletić, Chefredakteur der unabhängigen Zeitung "Mašina", dass die Regierung einen Sündenbock finden und die Proteste abflauen würden. Aber nein: Heute sind alle Universitäten in Serbien von den Studierenden besetzt, bei einer Großdemonstration Mitte März gingen 325.000 Menschen auf die Straße. Jeden Tag um 11.52 Uhr wird im ganzen Land bei Straßenblockaden für 16 Minuten der Toten gedacht.

Die Forderungen der Bewegung bringt Hana, welche in Budapest den dortigen Empfang der Radfahrer:innen mitorganisierte, auf den Punkt: „Die erste ist die Offenlegung der gesamten Dokumentation über die Renovierung des Bahnhofs, die Verfolgung der Leute, die für diese Todesfälle verantwortlich sind, und die Verfolgung der Leute, die Studierende verprügelt und sie bei den Protesten mit Autos überfahren haben."

Gelbe Westen kennzeichnen in Stuttgart – wie auch an den Hochschulen und bei den Straßenblockaden in Serbien – die Organisator:innen. Sie sind es auch, die plötzlich die versammelten Menschen auf dem Marienplatz anweisen, ein Spalier zu bilden. Sogar ein roter Teppich wird ausgerollt. Alle beginnen, ungeduldig nach dem Fahrradkorso Ausschau zu halten.

Und die Regierung taktiert

Der Umgang des Regimes mit den Protesten folgt bisher dem üblichen Drehbuch autoritärer Regime. Die Polizei hält sich zunächst zurück, um den Anschein der Demonstrationsfreiheit zu wahren und nach der Demo werden Aktivist:innen festgenommen. Vor allem im Staatssender RTS ist von "ausländischen Elementen" die Rede, die den Staat mit "terroristischer Gewalt" angreifen würden. Dies ist auch der Tenor der Gegenbewegung, die Aleksandar Vučić aufzubauen versucht, zu dessen Kundgebung zuletzt 50.000 Menschen kamen, darunter viele Staatsangestellte, deren Erscheinen er anordnete. Für Miłosz ist klar: "Im Grunde ist es nur ein einziger Mann, der über alles entscheidet. Das ist im 21. Jahrhundert inakzeptabel." Der Ende Januar verkündete Rücktritt von Ministerpräsident Miloš Vučević und seinem Kabinett sollte die Proteste beruhigen, an seine Stelle setzte Präsident Aleksandar Vučić letzte Woche einen seiner Getreuen, den politisch unerfahrenen Professor Đuro Macut.

Doch das Drehbuch geht nicht auf. Das lässt sich erahnen, wenn Organisatorin Hana von der Bewegung erzählt: „Die Studierenden zeigen uns, wie direkte Demokratie aussieht, in der es eine Gewaltenteilung gibt." Von Anfang an waren die Besetzungen an den Hochschulen geprägt von Vollversammlungen aller Studierende. Aktionen wurden dort debattiert, alle Entscheidungen abgestimmt und das Auftreten als geschlossene, bestimmte, aber friedliche Bewegung durch lange Debatten gefestigt. Klare Strukturen und Verantwortlichkeiten durch demokratische Mandate in der Kommunikation mit der Presse und eigene Sicherheitsstrukturen sorgen für eine beharrliche Präsenz nach außen, die das medial verbreitete Bild der "Chaoten" Lügen straft. Damit dies möglich ist, haben die jungen Protestierenden ihr Studium mit Rückendeckung ihrer Professor:innen gerade ausgesetzt. Sie organisieren eigene Bildungsveranstaltungen und Events in den Fakultäten und sammeln Essen, Getränke und Material über Spenden aus der Bevölkerung. Ein Großteil der Kommunikation läuft über Instagram, womit sie an den Staatsmedien vorbei ihre Forderungen verbreiten können.

Die Bewegung wächst und wächst

Ihr Engagement wirkt: Immer mehr Menschen aus der gesamten Bevölkerung beteiligen sich, und an manchen Orten gibt es inzwischen Bürger:innenversammlungen, die diesen demokratischen Aufbruch von unten in ihre Nachbarschaften tragen. Die Alternative, die sie bieten, ist glaubwürdig, auch weil sie handeln, wo die Behörden versagen: Sie haben eine Liste von einsturzgefährdeten Gebäuden zusammengestellt und eine Bürger:innenuntersuchung des Unglücks von Novi Sad ins Leben gerufen. Nachdem bei der Großdemonstration am 15. März eine unbekannte Waffe gegen Demonstrierende eingesetzt wurde und eine Massenpanik auslöste, sammelten sie 3.032 Zeugenaussagen und reichten Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Die Beweise deuten darauf hin, dass eine Schallkanone eingesetzt worden sein könnte, die in Serbien illegal ist. Die Aufklärung dieses Vorfalls wurde als fünfte Forderung der Protestbewegung aufgenommen.

Wie überall werden die Fahrradfahrenden auch in Stuttgart mit lautem "Pumpaj!" Rufen begrüßt. Die kurze Aufforderung zu "pumpen!" drückt die Entschlossenheit aus, den Druck auf die Regierung immer weiter zu erhöhen. Als die Radelnden eintreffen, heben sie ihre Räder in die Luft, pumpen damit wie beim Krafttraining. Die ausdauernde Solidarität, die hier zum Ausdruck kommt, entstand, als vom Regime bezahlte Schlägertrupps auf friedliche Demonstranten losgelassen wurden.

"Unser Leben ist ihnen egal, die Gewalt gegen uns ist ihnen egal. Aber uns ist es nicht egal", sagt Philipp, der an der Fakultät für Maschinenbau in Belgrad studiert. Er und seine Kommilitonen berichteten im Dezember beim kollektiven Pfannkuchenessen der Studierenden vor einem Hörsaal von der weitverbreiteten Korruption, die auch die letzten Wahlen zur Farce gemacht hat. Philipp betont deshalb: "Wir wollen einen Systemwechsel." Die Studierenden schlagen vor, eine Expertenregierung einzusetzen, die freie und faire Wahlen organisieren soll.

In Straßburg wird die Delegation am 15. April auch von Abgeordneten des Europäischen Parlaments empfangen. Über 1.500 Kilometer haben sie es geschafft, dass ihre Forderungen auch in Europa gehört werden von vielen Menschen entlang der Route und von der serbischen Diaspora. Die Bilder der Solidarität an den verschiedenen Stationen geben vor allem der Bewegung in Serbien Kraft. Doch die Studierenden richten sich auch an die europäischen Institutionen, die sie auffordern, gegenüber der serbischen Regierung der Forderung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Geltung zu verschaffen – schon allein deshalb, weil sich Serbien mitten im EU-Beitrittsprozess befindet. Je größer die Solidarität in Serbien und in Europa, desto mehr Hoffnung hat auch Mihajlo: "Wir ziehen jeden Tag viel mehr Menschen an. Mein Herz geht auf, wenn ich sehe, dass meine Eltern, Großeltern und andere, die nicht für diesen Kampf waren, jetzt ihre Meinung ändern. Wir zeigen, wie ausdauernd wir sind."

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