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Stuttgart 21 – Strafanzeige wegen Rostrohren

Plan: Null Gramm Rost. Realität: 92 Tonnen

Stuttgart 21 – Strafanzeige wegen Rostrohren: Plan: Null Gramm Rost. Realität: 92 Tonnen
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Die ersten Teile des kilometerlangen Rohrsystems des Grundwassermanagements von Stuttgart 21 werden abgebaut. Und offenbaren massive Rostschäden im Inneren der Rohre. Projektkritiker haben Strafanzeige erstattet. Gewarnt hatten sie schon 2011.

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Eckart Fricke nahm den Mund recht voll: In den verwendeten Rohren sei "auch der innere Korrosionsschutz … gegeben", sagte der damalige Bahnbevollmächtigte für Baden-Württemberg am 27. Mai 2011 auf einer Veranstaltung im Stuttgarter Rathaus, die über das geplante Grundwassermanagement (GWM) für Stuttgart 21 informieren sollte. Der Korrosions-, also Rostschutz sei verpflichtend, so Fricke, denn "er ist Teil der Auflage, die wir von den Behörden haben".

Wie viel Frickes Worte tatsächlich wert waren, wurde keine vier Wochen später offensichtlich, am 20. Juni 2011: Bei der sogenannten "Besetzung" des GWM (Kontext berichtete) konnten viele Bürger:innen die gestapelten blauen Rohre in Augenschein nehmen – und bereits da eine Rostschicht im Inneren erkennen.

Aus diesen Rohren wurde das 17,5 Kilometer lange Rohrsystem gebaut, das seit Jahren das Stadtbild rund um die Bahnhofs-Baustelle prägt. Aufgabe des GWM ist es, die Baugrube frei von Wasser zu halten. Dafür wird Grundwasser an den entsprechenden Stellen abgepumpt und in der Umgebung wieder in den Boden geleitet. Die Leitungen für dieses Infiltrationswasser (IW) führen durch die angrenzenden Stadtviertel bis in den Rosensteinpark in insgesamt 78 Sickerbrunnen, ein Teil direkt in den Neckar.

40 Prozent weggerostet

Nun, da die ersten Rohre der Leitung Richtung Neckar Anfang Juli wieder abgebaut wurden, ist zu sehen, was sich seit 2011 in ihrem Inneren getan hat: Sie sind massiv korrodiert, ein großer Teil der Substanz ist weggebröselt. Messungen vor Ort hätten ergaben, dass sich die Wanddicke teils um rund 40 Prozent verringert habe, sagt Hans Heydemann von der projektkritischen Gruppe "Ingenieure 22". Riesige Mengen von Rost seien jahrelang rechtswidrig in den Boden und in den Neckar geleitet worden, empört sich das Aktionsbündnis (AB) gegen Stuttgart 21. Am 10. August hat das Bündnis Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart gestellt – wegen Gewässer- und Bodenverunreinigung.

Angezeigt werden die Firma Hölscher Wasserbau aus Essen, die das GWM-System installiert und betrieben hat, und die Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm (PSU), die innerhalb der DB für Stuttgart 21 zuständig ist. Angeregt wird in der Anzeige auch, beim Stuttgarter Amt für Umweltschutz und beim Eisenbahnbundesamt (EBA) den Verdacht auf Beihilfe zu prüfen – denn beide hätten, so das Aktionsbündnis, ihre Aufsichtspflicht verletzt. Eine entsprechende Anzeige gab es bereits 2014 (Kontext berichtete), die allerdings von der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt wurde.

Um fünf Millionen Kubikmeter abgeleitetes Wasser, fünf Milliarden Liter, geht es laut den S-21-Kritiker:innen. Sie rechnen aufgrund selbst vorgenommener Wasserproben hoch, dass rund 92,5 Tonnen Rost in den Untergrund geleitet wurden – und zwar in die Kern- und Schutzzone des Heilquellenschutzgebiets – und weitere 12,8 Tonnen in den Neckar – in ein Fischschutzgebiet.

Für Menschen ist Eisenhydroxid, so die chemische Bezeichnung von Rost, zwar nicht giftig, wohl aber für Fische und andere Wassertiere, wie Hans Heydemann betont. Außerdem habe der stetige Rosteintrag Folgen für den Biomechanismus des Bodens und verstoße nicht zuletzt gegen wasserrechtliche Bestimmungen. Denn 55 der 78 Infiltrationsbrunnen liegen in der Kern- und Innenzone des Stuttgarter Heilquellenschutzgebiets.

Im Plan standen korrosionsbeständige Kunststoffrohre

Der Heilquellenschutz ist ein sensibler Punkt, und die DB schien zunächst sehr darum bemüht, hier besonders gewissenhaft zu agieren. "17 km Rohrsystem schützen das Stuttgarter Mineralwasser" lautete eine Überschrift der Bahn-Info-Zeitschrift "Dialog21" im September 2010. Im Text behauptete die Bahn, dass bei S 21 "die Anforderungen, die mit den Reinigungsanlagen für das Grundwasser zu erfüllen sind, (…) über dem Standard für Trinkwasserqualität (liegen)".

Diese Anforderungen hatte schon der Planfeststellungsbeschluss von 2005 für den Bauabschnitt PFA 1.1, den Tiefbahnhof, vorgegeben: Baumaterialien, "die bauzeitlich oder dauerhaft im Kontakt mit dem Grundwasser stehen (…), müssen grundwasserverträglich sein". Für zahlreiche Stoffe werden darin auch Einleitgrenzwerte festgelegt, allerdings nicht für Eisen, was 2015 auch ein Grund für die Einstellung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen war. Allerdings greift hier auch eine Richtlinie der Stadt von 1999, die einen Einleitgrenzwert von 20 Milligramm pro Liter für Feststoffe festlegt – und Rost ist ein nicht wasserlöslicher Feststoff.

Dass die Bahn ursprünglich Rosteintrag vermeiden wollte, dafür spricht auch eine Planänderung zu PFA 1.1 von 2010. Darin steht: Für das Rohrsystem seien "vorzugsweise HDPE-Rohre (…) vorgesehen". Rohre aus korrosionsbeständigem Kunststoff, aus Polyethylen (PE) in hoher Dichte (High Density, HD). Sie sind im Wasserrohrleitungsbau gängig und bewährt.

Stattdessen verwendete das von der DB beauftrage Unternehmen Hölscher Wasserbau aber Rohre aus gewöhnlichem Stahl, nur außen mit Kunststoffschaum ummantelt. Bei der Informationsveranstaltung im Mai 2011 fiel das Heydemann gleich auf: Der pensionierte Diplom-Ingenieur hatte beruflich viel mit Leitungsbau zu tun.

Ingenieurbüro bescheinigt: Rostschutz durch Rost

Warum der Rohrwechsel, das erklärte eine gewundene Antwort der Bahn vom 11. Juli 2011: Die Deutsche Bahn AG halte sich "grundsätzlich an die Planfeststellungsbeschlüsse", und sie habe "dem folgend bei der Ausschreibung der Bauleistungen für das Grundwassermanagement die Verwendung von Stahlrohren mit PE-Innenbeschichtung vorgegeben". Warum am Ende auch dieser Rohrtyp nicht genommen wurde, erklärte das Schreiben ebenfalls: Hölscher habe "eine Alternative angeboten" und "die Gleichwertigkeit des Materials" in einer Dokumentation nachgewiesen.

Diese Dokumentation zur Gleichwertigkeit datiert seltsamerweise vom 7. Juli 2011, obwohl die Rohre von Fricke ja schon Ende Mai präsentiert worden waren. Und von dem beauftragten Ingenieurbüro Dr. Spang aus Witten wird bei näherer Betrachtung keine Gleichwertigkeit bescheinigt, sondern nur, dass das Material unbedenklich sei. Denn im Inneren der Rohre würde sich "flächenhaft eine dünne Eisenhydroxidschicht ausbilden. Diese schützende Deckschicht kann als innerer Korrosionsschutz in Ansatz gebracht werden." Übersetzt: Rostschutz durch Rost.

HDPE-Rohre wären nicht teurer gewesen

Wollte die DB mit den Rohren Geld sparen? Das ergibt wenig Sinn, denn HDPE-Rohre wären "keineswegs teurer als Stahlrohre gewesen", sagt Heydemann. Als marktgängiges Serienprodukt seien sie im Gegenteil recht günstig. Nicht marktgängig und teurer seien dagegen Stahlrohre mit PE-Beschichtung, wie sie laut der DB-Antwort ausgeschrieben worden seien – und dann am Ende doch nicht genommen wurden.

Auf Kontext-Anfrage bei der S-21-Projektgesellschaft, warum statt HDPE-Rohren PE-beschichtete Stahlrohre ausgeschrieben worden seien, antwortet ein Bahnsprecher sehr allgemein: "Die Deutsche Bahn plant und arbeitet auf Basis der anerkannten Regeln der Technik (...). Die Eignung der in Frage kommenden Rohrvarianten wurde im Planfeststellungsverfahren umfassend fachlich erörtert. Die schließlich verwendete Variante entspricht der Planfeststellung." Und auf die Frage, ob es Firmen gab, die tatsächlich Stahlrohre mit PE-Beschichtung angeboten hätten, wird um Verständnis gebeten, "dass wir uns aus Wettbewerbsgründen grundsätzlich nicht zu Inhalten von Ausschreibungs- und Vergabeverfahren äußern".

2014: Rostbrühe wird sichtbar

Erste Eindrücke von den Folgen der "gleichwertigen Alternative" gab es 2014, als das GWM in Betrieb genommen wurde. Kurz nach dem Start hatten die Ingenieure 22 im April und Mai bei mehreren Infiltrationsbrunnen Proben genommen, die bei der Entnahme deutlich rotbraun verfärbtes Wasser zeigten. Drei unabhängige Prüflabore untersuchten die Proben. Ergebnis: hohe Eisen- und damit Rostgehalte. Der Einleitgrenzwert der Stadt für ungelöste Stoffe von 20 mg/l wurde teils um ein Mehrfaches überschritten.

Die Ingenieure wiesen unter anderem das Eisenbahnbundesamt und das Stuttgarter Umweltamt schriftlich darauf hin. Stadt und Umweltamt veranlassten die Bahn daraufhin zu Wasseruntersuchungen. Und wiegelten bald ab: Die Proben – die die Firma Hölscher selbst genommen und untersucht hatte – seien unbedenklich gewesen. Ebenfalls im Mai gab es erste Anwohnerberichte, dass Mitarbeiter der Firma Hölscher vor Probeentnahmen erst einmal die Rohrleitung gründlich durchspülten. Ähnliche Beobachtungen, teils fotografiert oder gefilmt, folgten mehrfach.

Eine neue Dynamik brachte ein Verkehrsunfall im Juni 2014: Ein LKW riss in der Jägerstraße ein Rohrsystem um, daraus ergoss sich, gut sichtbar, eine rostbraune Brühe. Die Kontrollen wurden intensiviert, Ergebnisse wurden keine verkündet. Anfang August erstatteten die Ingenieure 22 dann die Strafanzeige. Kurz darauf räumte auch das EBA ein, dass "Einleitungsgrenzwerte für abfiltrierbare Stoffe" beim GWM "nicht durchgehend eingehalten worden sein könnten". Auch Stadt- und Landespolitik wurden vorübergehend hellhörig. Stuttgarts damaliger OB Fritz Kuhn (Grüne) mahnte bei der Bahn "eine transparente und klare Information der Öffentlichkeit" an. Und das baden-württembergische Umweltministerium, damals geführt vom Grünen Franz Untersteller, regte an, das Wasser von der unabhängigen Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz untersuchen zu lassen.

Proben mit erhöhten Werten sind "unplausibel"

Die Bahn ging darauf nicht ein, änderte aber doch etwas: Nicht mehr Hölscher prüfte sein System selbst, sondern das Prüflabor Agrolab, Sitz im bayerischen Bruckberg, wurde mit der Analyse beauftragt. Sonderbar dabei: Als Probenehmer vermerkte Agrolab im Prüfbericht den "Büroservice Daniela Hölzle Reinhard Hölzle" aus Stuttgart-Feuerbach. Heute ist zwar Reinhard Hölzle aus dem Firmennamen verschwunden, im Online-Branchenbuch findet sich aber als Angebot weiterhin nur "Büroservice" und nicht "zertifizierte Wasserprobenentnahme".

Die Anfang Oktober 2014 entnommenen Proben waren dennoch bemerkenswert: Während die Menge der ungelösten Feststoffe bei den meisten unter dem Grenzwert (20 mg/l) lag, war sie bei zweien extrem hoch: 570 beziehungsweise 542 mg pro Liter. Statt dem nachzugehen, wurden jene Proben nicht berücksichtigt und vernichtet. Heydemann erklärt, dass das Umweltamt dies mit der "4-von-5-Regel" gerechtfertigt habe – wenn nach vier vorangegangenen Proben in der fünften ein deutlich abweichender Wert auftrete, falle diese Probe unter den Tisch. Doch auch das Umweltamt räumte ein, Agrolab "hätte fragliche Analysewerte nicht ersatzlos aus den Prüfberichten streichen dürfen und die Rückstellproben aufbewahren müssen". Zugleich urteilte das Amt, dass "derart hohe Werte unplausibel sind und deshalb zu Recht (…) nicht berücksichtigt wurden".

Dass die Werte vielleicht doch nicht so unplausibel waren, legt der jetzt sichtbare Zustand der abgebauten Rohre nahe. Er ist auch die Hauptstütze für die neue Strafanzeige. "Wir haben jetzt Anhaltspunkte, dass Schäden eingetreten sind", sagt Dieter Reicherter, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Ob dies auch zutrifft, dazu müssten jetzt Nachforschungen angestellt werden. "Unser Hauptvorwurf ist ja, dass die zuständigen Behörden ihre Kontrollpflichten verletzt haben", sagt Reicherter.


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3 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 13.09.2023
    Antworten
    Wie macht man das auf dem Rest der Welt?

    Ein Grundwassermanagement gibt es ja schließlich bei fast jeder Großbaustelle.

    Nicht, dass man sich hier wieder mal über erwas künstlich echauffiert, was überall normal ist.
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