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Winfried Kretschmann

Der Landesherr vom Reitzenstein

Winfried Kretschmann: Der Landesherr vom Reitzenstein
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Machtfülle haben sie gescheut wie der Teufel das Weihwasser. Keine andere Partei schlug sich so sehr mit Strategien gegen Ämterhäufung und allzu großen Einfluss Einzelner herum wie die Grünen. Nicht nur deshalb hat die Beinfreiheit, die Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann für sich beansprucht, mittlerweile durchaus bedenkliche Züge.

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Sogar wenn der Ministerpräsident falsch liegt, liegt er in den Augen der meisten grünen Abgeordneten trotzdem richtig. Es soll hoch hergegangen sein in der Fraktion, als publik wurde, dass und wie sich Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) ein Papier von gut 30 Gesundheitsämtern aus dem ganzen Land zu eigen gemacht hatte. Mit einem Anschreiben versehen, leitete er die Forderungen nach einem Strategiewechsel und veränderten Test- wie Quarantäne-Pflichten an seinen roten Ampel-Kollegen Karl Lauterbach in Berlin weiter.

Prompt rüffelte Regierungschef Kretschmann vor versammelter Landespresse den "missverständlichen, unabgestimmten Vorstoß zur falschen Zeit". Damit hatte er in der Sache zwar unrecht, weil aber selbst bei Grüns Ober Unter sticht und die Fragen der fortzuentwickelnden Pandemie-Bekämpfung komplex sind, schlug sich die Fraktion umgehend auf Kretschmanns Seite. Sehr zur Schadenfreude des schwarzen Koalitionspartners.



Dabei hätten dem grünen Zugpferd Widerworte mal richtig gutgetan. Auch weil er dann selber der Sache vielleicht nochmals nachgegangen wäre und womöglich hätte feststellen können, dass der Vorgang natürlich im Staatsministerium angelandet war. Dessen Amtschef Florian Stegmann ist die "Geschäftsstelle Lenkungsgruppe SARS-CoV-2 (Coronavirus)" direkt zugeordnet, wo das Schreiben hängen blieb, ist ungeklärt. Forsch empfiehlt Kretschmann allen Kabinettsmitgliedern, ihn über "Briefe, die wichtige Fragen betreffen" zu informieren, "denn im Team zu arbeiten, ist Fehler vermeidend".

"Mein Land", "meine Regierung", "meine Entscheidung"

Dabei neigt der 73-Jährige selber nicht zu übertriebenem Team-Spirit, wie schon seine Sprache und dieser obsessive Hang zu Possessivpronomen verraten. In seinen Reden und Statements wimmelt es nur so von "Mein Land", "meine Regierung", "meine Entscheidung". Weil Theresia Bauer Oberbürgermeisterin in Heidelberg werden will, verkündet der knorrige Ex-Pädagoge, "verliere ich eine meiner besten und profiliertesten Ministerinnen". Die Entscheidung über Bauers Nachfolge im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst werde dann getroffen, "wenn sie ansteht, von mir, wie es in der Verfassung steht". Die Betonung liegt auf "von mir".



Es steht tatsächlich in der Verfassung, genauer in Artikel 46, Absatz zwei, dass der Ministerpräsident "die Minister, Staatssekretäre und Staatsräte beruft und entlässt". Der nächste Satz offenbart den meilenweiten Unterschied zwischen geschriebenem Wort und gelebter Praxis. Denn der Ministerpräsident bestellt "seinen Stellvertreter", heißt es weiter, was natürlich Unfug ist und der gelebten politischen Praxis widerspricht. Selbstverständlich hat die CDU entschieden, dass deren Parteichef und Innenminister Thomas Strobl Stellvertretender Ministerpräsident wird. Niemand sonst, und schon gar nicht ein einzelner Grüner.



Viele Jahre gehörte das Spannungsfeld zwischen Professionalisierung und einem möglichst breiten Mitspracherecht zur Öko-Partei wie die Sonnenblume. Mit aus heutiger Sicht untauglichen Instrumenten wie der Zwangsrotation, nach der Abgeordnete der Grünen nie länger als zwei Jahre im Parlament sitzen sollten, um ihre Plätze dann für Nachrückende freizumachen, versuchte die Partei, Ämterhäufung und Machtfülle entgegenzuwirken. Kretschmann hielt schon damals wenig von solchen Ängsten, sondern warnte vor "parteibornierter Basokratie" als einem Instrument der Selbstabkapselung. Und befürchtete sogar, die Partei-Neugründung könne bald wieder Geschichte sein, wenn sie nicht Gelassenheit und einen langen Atem aufbringe.



Nirgendwo agiert ein Ministerpräsident so losgelöst



1991 legte der ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, damals Grünen-Fraktionschef im Landtag, ein Reformpapier vor, "damit die Grünen nicht kaputt gehen". Der Südwesten sah sich als Vorreiter für die Abkehr der Realos von Gründungsprinzipien. Nach langer Diskussion wurde die Abkehr von der "undemokratischen Bestimmung durch informelle Machtcliquen" beschlossen. Ebenso, um "eine Professionalisierung der politischen Arbeit voranzutreiben", der langsame Abschied von der Trennung von Amt und Abgeordnetenmandat. 2003 wurden auch auf Bundesebene weitere Lockerungen beschlossen, und seit vier Jahren ist es sogar erlaubt, für acht Monate beide Funktionen inne zu haben. Robert Habeck, damals Minister in Schleswig-Holstein, hatte das 2018 zur Bedingung für die Übernahme des Bundesvorsitzes gemacht.

Ohne Kretschmanns Verdienste und Popularität, ohne seine Macht und seinen Einfluss ist der dauerhafte Höhenflug als neue Baden-Württemberg-Partei unvorstellbar. Zugleich bleibt die Konstruktion des weitgehend losgelöst agierenden Ministerpräsidenten ein Alleinstellungsmerkmal der Grünen. In Union oder SPD könnten die jeweiligen Regierungschefs wichtige inhaltliche oder Personalentscheidungen niemals derart souverän treffen, oder richtiger: im Alleingang. Denn Schwarze und Rote in dieser Funktion sind immer Vorsitzende ihres Landesverbandes oder eng eingebunden und wissen genau, dass sich solche Solopartien, ohne Hinzuziehung anderer wichtiger Leute, von selbst verbieten: risikoreich, weil konfliktträchtig. Von Hans Filbinger bis Stefan Mappus musste beispielsweise die regionale Ausgewogenheit in der CDU gewahrt bleiben. Alle vier Bezirksverbände wachten penibel darüber, dass auf ihre Belange und Standpunkte Rücksicht genommen wurde und wird.



Kretschmann, Aushängeschild und Erfolgsgarant, muss bei Personalentscheidungen wenn überhaupt die Quote im Auge behalten. In der Villa Reitzenstein hoch über dem Talkessel sitzt er umgeben von seinen engsten MitarbeiterInnen und gibt gerne den Archimedes von Syrakus ("Störe meine Kreise nicht"). Ein Teil dieser Unabhängigkeit, die er sich nimmt und die ihm seine Partei zubilligt, ohne gefragt worden zu sein, erklärt seine außergewöhnliche Beliebtheit. Trotzdem oder gerade deshalb mutiert der Landesvater langsam, aber sicher zum Landesherrn. "Er hält gern Vorträge", mosert einer der Jüngeren aus der Fraktion, "und manche auch nicht nur einmal." Außerdem stilisiere er sich immer wieder zum "Versteher". Zum Beispiel der Menschen im ländlichen Raum "und ihrer angeblichen Abhängigkeit vom Auto". Ziemlich weit weg ist das von dem Grünen, der kurz nach der Landtagswahl 2011, überwältigt vom Wahlsieg, den berühmt gewordenen Satz von den weniger Autos sagte, die besser wären als mehr. Nicht ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat sich, was danach kam: "Wir müssen in Zukunft Mobilitätskonzepte verkaufen und nicht nur Autos." Und: "Wenn es die Automobilitätsindustrie nicht schafft, grüner zu werden, hat sie keine Zukunft."

Kein Tempolimit? Kretschmann zuckt die Schultern



In der aktuellen Weltlage wird viel und intensiv debattiert über Mobilitätskonzepte. Verkehrsminister und Parteifreund Winfried Hermann hat ein Papier vorgelegt mit dem Titel "Weniger Sprit verbrauchen heißt weniger den Krieg finanzieren". Der Regierungschef mag dabei aber nicht als Taktgeber mitmachen und findet sich schulterzuckend damit ab, dass die FDP auf Bundesebene kein Tempolimit will ("Da kann man halt nichts machen"). Den Versuch, mit einem seiner legendären flammenden Appelle seine hohen persönlichen Zustimmungsraten in einen sachpolitischen Erfolg umzumünzen, unternimmt er gar nicht erst.


Kretschmann fremdelt mit seiner Partei nicht erst seit gestern, mit dem Nachwuchs ohnehin. Diskussionen laufen eher nach der Botschaft ab, die er von Anfang an mit der "Politik des Gehörtwerdens" verbunden hat: "Gehört werden heißt nicht Erhörtwerden." Zur Arbeitsplatzbeschreibung etlicher Abgeordneter gehört Aufbegehren dagegen nicht, zumal viele wissen, dass sie ihr Mandat primär dem großen Grünen zu verdanken haben. Und gefördert wird der offene Austausch von Argumenten vom Ministerpräsidenten auch nicht eben, im Kabinett sind Debatten verpönt. Eher verblasst ist seine Devise, die früher mal als Rezept gegen die Verlockungen des Regierungsalltags ausgegeben worden war: "Die Anwandlung zum Basta kann ich verstehen, aber man muss ihr widerstehen."

Mittlerweile läuft Kretschmann sogar Gefahr, selber Adressat einer klaren Ansage zu werden. Denn er fühlt sich verpflichtet, gelegentlich als Kritiker der Ampel aufzutreten – was zwar ungewöhnlich sei, wie er selber sagt, aber eben notwendig. Etwa in der Corona-Politik. An Rudi Hoogvliet, dem ehemaligen Regierungssprecher und einem seiner engsten Vertrauten, der von der Villa Reitzenstein in die Landesvertretung am Berliner Tiergarten rotierte, ist es jetzt, Brücken zu bauen zwischen dem Bund und Baden-Württemberg. Beispielsweise um Verständnis zu werben für Annalena Baerbock, der Kretschmann anhaltend übelnahm, im Bundestagswahlkampf seine guten Ratschläge nicht beachtet und so die hohen Zustimmungswerte in Umfragen versemmelt zu haben. Ein zweiter aus seiner engsten Umgebung, Staatssekretär Florian Hassler, ist der Link zu Lena Schwelling und Pascal Haggenmüller, die neuerdings den Landesverband führen. Der Draht zu den Vorsitzenden ist jedenfalls traditionell ein stabiler, speziell dann, wenn die anerkennen, wer das Sagen hat. Spannend wird zu beobachten sein, wie sich die Gewichte austarieren, wenn er seine eigene Nachfolge organisieren muss. Aber das ist noch Zukunftsmusik.



In der Gegenwart ist das Verhältnis zu Lucha wieder gekittet. Schon deshalb, weil SPD und FDP – ohne jede Chance auf Erfolg – seinen Abgang fordern. "Natürlich werde ich ihn nicht entlassen", sagt der Ministerpräsident nach der Kabinettsitzung  am Dienstag. Dann kommt er noch einmal auf die kommunikative Panne zu sprechen und lässt abermals erkennen, dass er den Brief, der den ganzen Trubel ausgelöst hatte, nicht wirklich genau gelesen hat. "Schwamm drüber", signalisiert die Miene des neben ihm auf der Regierungspressekonferenz sitzenden Sozialministers. Er habe, so der robuste gebürtige Oberbayer Lucha, "ein ganzes Berufsleben lang meiner Klientel Resilienz-Strategien gepredigt, und die wende ich jetzt an". Ob Adressat dieser Botschaft nur die Opposition ist oder nicht doch ein wenig auch Kretschmann, bleibt offen – und so der Bewertung des Auditoriums überlassen. Und der Nachwelt.


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