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Der Bahnhof und S 21

Wandertag

Der Bahnhof und S 21: Wandertag
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Wann es so weit ist, darüber wurden schon erbitterte Gerichtsverfahren ausgefochten. Klar ist: In ein paar Jahren oder Jahrzehnten, wenn nicht doch noch was dazwischen kommt, wird Stuttgart vielleicht einen neuen Bahnhof haben. Bis dahin muss der Fahrgast halt laufen. Rund ums Loch in der Innenstadt.

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Wo es denn hier zu den Taxis gehe, die standen doch immer hier, fragt eine Frau mit Rollkoffer und zeigt auf den abgesperrten Bahnhofsvorplatz. Keine Taxis mehr. Stattdessen ein Kran, viele Zäune, eine Menge Absperrbänder, die wichtig im Wind flattern. Oben an der Fassade des Bonatzbaus fehlen Steine, die sind kürzlich rausgebrochen und 15 Meter in die Tiefe gefallen, das Ganze sieht aus, als habe ein Riese mal vom Gebäude kosten wollen. Die Taxis stehen jetzt in der Mitte der Hauptstraße vor dem Bahnhof, die aber, weil auch gesperrt, nur noch über einen Übergang zu erreichen ist, der sich ziemlich weit weg befindet. Die Frau schirmt die Augen ab, blickt in die Ferne. Furchtbar sei das hier, "ganz furchtbar!"

Wo mal der Eingang ins Hauptgebäude und zu den Gleisen war, ist jetzt Sperrzone. Unter anderem, weil im Inneren (sehr bald "moderne Mobilitätszentrale und urbaner Treffpunkt") zwei neue "lichtdurchflutete Ebenen" entstehen sollen. Aber bis da Licht flutet, sind die Fahrgäste gekniffen – oder auf dem Weg von der U- oder auch S-Bahn zu den Zügen verhungert. Denn wer zum Zug will oder vom Zug kommt, latscht zum Anschlussverkehrsmittel locker zehn Minuten. Immer schön rum um das Mega-Loch in Stuttgarts Mitte, das mal der neue Bahnhof werden soll.

Es empfiehlt sich festes Schuhwerk. Je nach Wetterlage Outdoor-Bekleidung, denn der Weg ist ein langer und meist nicht überdacht. Auch Fitness sollten BahnfahrerInnen derzeit mitbringen, und Trittsicherheit kann wegen des teils weglosen Geländes nicht schaden. Gehbehinderung oder Alter dagegen sollten möglichst nicht vorhanden sein.

Zu den Gleisen ist am Nordausgang "kein Durchgang". Stattdessen stehen dort zwei junge Studenten, "Baustellen-Buddies", die bei "kein Durchgang" ihre Ferien verbringen und Verwirrte und Verirrte aller Art auf den richtigen Pfad lotsen. "Zum Zug? Zur S-Bahn?" Kürzlich, erzählt einer der beiden, sei eine "Oma" vorbeigekommen, die aus Verzweiflung "allen eine reinhauen wollte". Es ist nicht immer das Beste, was Baustellen im Menschen hervorbringen.

Im Bahnhofsgebäude ist alles abgesperrt, außer der Aufzug zur S-Bahn. Die Graffiti-Bilder an den Wänden, ehemals Kunstaktion, wurden von den überall brütenden Tauben flächendeckend vollgekackt. Bewundernswert akkurat übrigens, saubere Streifen von oben nach unten, könnte auch zur Kunst gehören. Auf ein Plakat hat jemand "What you see is what you get", gesprüht – du bekommst, was du siehst. Oje, übles Omen. Im Hintergrund tschilpt und gurrt es, eine Taube trägt mit erhobenem Haupt einen kleinen Zweig vorbei. Ein Ölzweig? Man weiß es nicht.

Also weiter, auf dem Bahnhofs-Rundwanderweg parallel zur Heilbronner Straße in Richtung LBBW-Bank. Ein hoher Zaun steht da, hinter dem kann man Arbeiter auf der Stuttgart-21-Baustelle in freier Wildbahn beobachten. Es gibt sogar Extra-Bänkle zum Draufsitzen und Kucken. Anregung an dieser Stelle: eine Futterspenden-Dose, in die man zehn Cent reinsteckt, und es kommen Körner raus ... Späßchen. Um die Ecke gibt's sogar Gastronomie (Fleischkäsbrötchen 1 Euro 70), sehr gut, falls mal einer einen Schwächeanfall kriegt auf dem langen Weg zur Bahn. Welcher Lokalpolitiker nochmal sagte einst, die S-21-Baustelle werde den Verkauf von Fleischkäsbrötchen immens ankurbeln? Ach, egal.

Der Weg führt dann nach rechts, einmal um die Ecke, mit dem Nippel durch die Lasche, und durch die nach oben gedrehte Kurbel erscheint dann ein Pfeil, und da drücken Sie dann drauf und zack – sind Sie angekommen. Das Schild "zu den Zügen" ist ja auch nicht zu übersehen. Mindestens 30 mal 40 Zentimeter groß.

Wer es bis hierher geschafft hat: Chapeau. Wer von hier aus weiter will: hm, doof. Denn von der Bahnsteighalle selbst führt kein regulärer Weg mehr irgendwo hin. Wer also raus will in Richtung Süden und in die Stadt, nimmt "den Steg". Lang, nach unten hin abfallend, mit vielen Kurven und Windungen. Immerhin endet der fulminante Ersatzweg im Schlossgarten und spuckt seine BegeherInnen mehrere Stockwerke tiefer aus, direkt vor der "Alm Deluxe", einem Holzhaus mit Suff-Anmutung, das hier steht, weil das Volksfest coronabedingt schon wieder ausfällt. Da trinken wir einen drauf. Wo wir schon mal hier sind. Und wer weiß, ob wir nochmal her finden.


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2 Kommentare verfügbar

  • Claudia Heruday
    am 18.10.2021
    Antworten
    Das fände ich gut: Alle Verantwortlichen dieser Stadt/dieses Landes - Gemeinderäte, Politiker, die "Influencer" der Vor-digital-Zeit - alle nur Auto fahrende Steuerzahler, die Bewohner der Filder-Vororte etc. etc. - und alle Ahnungslosen sollten verpflichtet werden, ohne fremde Hilfe oder…
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