Das Vorspiel begann 1977 mit einem Skandal im biederen Reutlingen, als der Berufsschulreferendar Uwe Zellmer mit Schülern das Stück "Klassenspiel oder Der abenteuerliche Alltag des Lehrlings Tom" inszenierte. Die Hauptrolle spielte der aus Hirrlingen bei Rottenburg stammende Bernhard Hurm, der später der wichtigste Protagonist des Theaters Lindenhof und mit Zellmer dessen Intendant wurde.
Aus dem Klassenspiel wurde ein Klassenkämpfle: Die örtliche Industrie- und Handelskammer wollte die Aufführung verhindern, anonyme Pamphlete hetzten gegen "linke Rattenfänger". Dazu muss man Folgendes wissen: Der aus Heidenheim stammende Zellmer war ein herausragender Kicker und hoffte auf eine Karriere beim FC Bayern – Fotos zeigen ihn beim Training mit Franz Beckenbauer und Gerd Müller. Nach einer schweren Verletzung verließ er München und stürmte in Tübingen in der Studentenbewegung mit. Obwohl ihm der Rhetoriker Walter Jens bescheinigte, der "sanfteste Maoist aller Zeiten" zu sein, schnüffelte die Kultusbehörde hinter Zellmer her. Er entging erst nach Intervention des CDU-Landtagsabgeordneten Erich Barthold, der den Mittelfeldmotor beim SSV Reutlingen halten wollte, einem Berufsverbot.
Die "Stuttgarter Nachrichten" entdeckten in Zellmers Theaterkollektiv eine "riesige Produktivkraft, eine Naturkraft fürwahr". Nicht weniger Aufsehen erregte "Viva Argentina", ein Stück zur Fußball-WM 1978. In dem südamerikanischen Land herrschte die Folterdiktatur Jorge Videlas, Nationalverteidiger Berti Vogts indes verkündete blindlings: "Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen."
Elf und mehr Freunde wollten sie sein: 1981 probte die Schauspieltruppe den Ausbruch aus den Stadtmauern, den Aufbruch auf die Alb. Leitmotiv war Hölderlins Gedicht "Der Gang aufs Land": "Komm! ins Offene, Freund!" Wo andere in dem Landstrich nur "Schwäbisch Sibirien" sahen, entdeckten die Mimen (von Anfang mit dabei auch Dietlinde Ellsässer, Ida Ott, Gerald Ettwein, Stefan Hallmayer) den Vorschein eines südlichen Arkadiens: "Der Sommer mit hohem Licht, der Winter mit klarer Kälte, glanzvoll eventuell der Herbst (. . .) Wind wie vom Meer."
Die Großkritik schwärmt vom Wunder von der Alb
Eine gewagte Vision, ein Theater hineingesehen in eine Landschaft hinter den sieben Bergen: In Melchingen auf der Zollernalb, einem Ort mit 900 Einwohnern, stand der Landgasthof "Linde" zum Verkauf, jahrelang war die Finanzierung ein Drahtseilakt. Aber die Artisten unter der Zirkuskuppel, anfangs misstrauisch beäugt von den Einheimischen, waren nicht ratlos. Am 16. Mai 1981 wurde der Lindenhof eröffnet, wenig später hatte Zellmers Stück "Semmer Kerle oder koine" Premiere: Der dörfliche Kontroll- und Zwangszusammenhang treibt einen Jugendlichen in den Suizid – Alb-Träume können Albträume sein.
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