Rätschen scheppern, Vuvuzelas dröhnen, Gelächter brandet auf, als Christine Prayon zum ersten Mal ihre Stimme erhebt gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 und die "lieben Chaoten, Radikalen und Gegen-alles-Seier und -Seierinnen" begrüßt. Es ist der 30. August 2010, es ist die erste Montagsdemo nach dem Abrissbeginn des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der tausende Demonstranten auf die Straßen der Landeshauptstadt getrieben hatte. Und die Stuttgarter Kabarettistin liest den Medien von "FAZ" über "Focus" bis hin zu "Stuttgarter Zeitung" die Leviten, weil sie den Protest mal verharmlosten ("trommelnder schwäbischer Volksstamm"), mal verteufelten ("4. RAF-Generation"): "Danke, dass ihr uns mit der Wahrheit verschont und für Ruhe gesorgt habt." Der Protest hat die Kabarettistin politisiert.
Drei Wochen lang hat Prayon an dieser ersten Montagsdemo-Rede gefeilt, wie sie im Gespräch mit Kontext bekannte. Die Sprachkünstlerin nimmt Humor ernst. Den Widerstand gegen die Tiefhaltestelle auch. Danach stand die heute 46-Jährige immer wieder auf der Bühne vor dem Bahnhof. Als 2019 im Theaterhaus zehn Jahre Montagsdemos gefeiert wird, ist Christine Prayon, klar, immer noch und wieder dabei. Sie schickt die Politik im Raumschiff auf den Mars mit der Devise: Oben bleiben! "Seit der Protest erfolgreich weggeschlichtet, weggestresstestet und weggevolksentschieden worden ist", beteuert sie kokett, "bin ich sprachlos. Zum Kapitalismus fällt mir noch was ein. Aber darum geht's ja gar nicht?!" Schon in ihrer ersten Rede machte die Humorarbeiterin klar, dass es bei diesem Bürgerprotest um mehr geht als um Folklore oder auch nur um einen Bahnhof.
Beliebt war ihre Parodie der damaligen Landesumweltministerin Tanja Gönner (CDU), auch die schwarze Mamba genannt. Die schwarze Gönner wurde Kult, machte die Stuttgarter Kabarettistin weit über den Kesselrand hinaus bekannt – die Rolle war ihr Ticket zur "heute-Show". Niemand konnte wie Christine Prayon die angebrochenen Sätze der ministeriellen Bahnhofsbefürworterin aufblasen zu scheinbar gewichtigen Aussagen, gespickt mit wohlklingend Fremdwörtern, vorgetragen in schwäbisch-näselndem Ton. Ihre Gönner-Parodie war die Eintrittskarte in die Bundesliga der Kabarettisten-Szene, die nicht eben durch übermäßige Frauenüberpräsenz geglänzt hatte. Nun hat das Kabarett Birte Schneider aka Christine Prayon, die schnoddrige Reporterin, die Oliver Welke in der "heute-Show" die Welt erklärt.
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Karsten Wehrmeister
am 28.06.2023