Im Ludwigsburger Industriegebiet ist die Postkartenromantik der Barockstadt nur Schall und schwarzer Rauch. Schwer beladene Lkws donnern über den Asphalt, Krähen schreien mit Kreissägen um die Wette. Ausgerechnet hier gibt es ein kleines Portal in eine bunte Märchenwelt aus Styropor und Fantasie – das Atelier der Künstlerin Justyna Koeke. "Moment, ich hab da irgendwo noch was Megageiles", sagt die 39-Jährige mit diesem verführerischen polnischen Akzent, der sich in die Ohrmuscheln kuschelt. Wie besessen wühlt sie in Bergen aus Tüll, Stoffwürsten und Reifröcken. "Ha, da ist es!", ruft sie und zieht einen Kopfschmuck in Form einer roten Flamingoblume hervor.
Das Atelier der Ludwigsburgerin in der alten Eberhard-Ludwig-Kaserne ist eine wilde Mischung aus Materiallager, Punker-Keller und Kinderfasching. Eine durchgeknallte Villa Kunterbunt inmitten der Baustelle eines Stahlgroßhändlers. Wer den Weg ins Atelier findet, wird sich auch Tage später noch an den Besuch erinnern. Die kleinen weißen Styroporkügelchen, die sie als Füllmaterial für ihre Stoffarbeiten verwendet, kleben überall.
Koeke ist im Stress. Am internationalen Frauentag am 8. März wird sie ihre Kostüme, die sie nach eigenen Kinderzeichnungen erschaffen hat, in der Stadtbibliothek Stuttgart vorstellen. In der pompösen Fashion-Performance "Prinzessinnen und Heilige". Als wäre die surreale Haute Couture nicht schon abgefahren genug, wird sie auch noch von 15 Damen aus verschiedenen Stuttgarter Seniorenheimen präsentiert. Eine Hommage an die Weiblichkeit.
Weder schön noch gut
Zusammen mit fünf Schwestern ist Koeke in einem Frauenhaushalt in Krakau groß geworden. Die detailreichen Kinderzeichnungen von klein Justyna und ihren Schwestern sind geprägt von Archetypen aus Märchen und Katholizismus: Prinzessinnen und Heilige sind die Heldinnen ihrer Kindheit. Schon den kleinen Mädchen wurde eingebläut, dass die vor allem eins sein sollen: schön und lieb. Doch das war Justyna, auf Polnisch "die Gerechte", nicht. "Alle haben immer gedacht, dass ich ein Junge bin. Ich war weder schön noch gut", sagt die Powerfrau. Dann schnallt sie sich eine überdimensionierte Skulptur in Form von blonden Zöpfen auf den Kopf und grinst bis über beide Ohren.
Geprägt von Patriarchat und Kirche, entnervt von den Eltern, studiert Koeke zunächst Restaurierung. Der Liebe wegen kommt sie Anfang der Nullerjahre nach Deutschland, studiert dann Bildhauerei an der Kunstakademie in Stuttgart. Dort unterrichtet sie heute in der Medienwerkstatt, hat eine halbe Stelle. "Mich hat die Rolle der Frau und dieser ganze traditionelle Mist, den man als Kind verzapft bekommt, einfach nicht losgelassen", sagt die Kasernen-Pippi-Langstrumpf. In ihren Werken arbeitet sie sich an ihrer polnischen Vergangenheit und der katholischen Kirche ab. Entwirft und erschafft fantastische Figuren und Kostüme. Schlüpft nicht selten selbst hinein und – provoziert.
In "Empfängnis" inszeniert sie sich 2013 als Mutter Gottes mit einem großen Ohr im Schritt, durch das sie ihr Jesuskind empfängt. Von einem <link http: www.justynakoeke.com apparition-of-virgin-mary.html _blank external-link-new-window>Storch mit einem enormen pinken Penis. In einer anderen Kunstaktion stellt Koeke kleine Bildaltare in der Natur auf, packt kitschig-groteske McDonald's- und Apple-Skulpturen oder Harry-Potter-Puppen hinein. Das katholische Onlinemagazin "Katholisches.info" empört sich über <link http: www.katholisches.info justyna-koekes-verunglimpfung-von-jesus-und-maria-in-stuttgart _blank external-link-new-window>einen "neuen Fall von Gotteslästerung", der die "Missbilligung deutscher Christen" errege.
Als Koeke ihre Empfängnis-Performance von 2013 als Video ins Internet stellt, bekommt sie einen Anruf aus dem Katholischen Stadtdekanat. Der Stuttgarter Katholikenchef Christian Hermes war am Apparat und lud sie zu sich ins Haus der Katholischen Kirche ein. "Ich dachte zuerst: 'O Gott, das gibt jetzt richtig Ärger', doch dann kam alles ganz anders", erzählt die Maria mit dem Ohr im Schritt belustigt. Denn statt den empörten Katholiken rauszuhängen, interessiert sich Hermes für die Arbeit der "Gotteslästerin". Als sie ihm von ihrem Projekt "Prinzessinnen und Heilige" erzählt, hilft er ihr, in verschiedenen Seniorenheimen der Caritas weitere Models zu finden. "In Polen hätten sie mich dafür gelyncht", meint die Kunstlehrerin und lacht laut, als sie sich in einem ihrer Kostüme im Atelierspiegel erblickt.
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