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Die Kehrseite der Stadt

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Stuttgart kann sehr kalt sein, hart und nass. Thomas Schuler weiß das. Zwanzig Jahre lang war er Alkoholiker, fünf davon hat er auf den Straßen der Landeshauptstadt gelebt. Für die Straßenzeitung "Trott-War" bietet der 46-Jährige alternative Stadtführungen an.

Stuttgart anders. Es ist Freitag, kurz vorm Dunkelwerden. Thomas Schuler steht am Charlottenplatz und zeigt auf das öffentliche Klo zwanzig Meter entfernt. Die seien prädestiniert für Fixer, weil es da Wasser gebe zur Heroinaufbereitung. "Aber wenn das Licht da drin blau ist, finden die ihre Vene nicht. Deshalb haben alle öffentlichen Toiletten blaues Licht." Da laufe so ein Junkie rein und dann – ratzfatz – rückwärts wieder raus und käme nie wieder. Das Publikum macht leise "ah" und "oh", höchstens mal ein halblautes "ach ...", weil das Klolicht zwar mächtig interessant, aber eben keine Sehenswürdigkeit ist, die bejubelt werden könnte. Schuler nickt gewichtig.

Er ist der Chef-Stadtführer von "Trott-War", der Stuttgarter Straßenzeitung. Ein sonniger Typ in dicker roter Jacke, der quatscht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Seit zehn Jahren arbeitet er für "Trott-War". Zuerst war er freier Zeitungsverkäufer, dann Festangestellter, dann Stadtführer. Und weil das so gut läuft, gibt es derzeit neben ihm noch zwei weitere. Schuler ist ihr "Chef" und darauf "stolz wie Harry".

Um ihn herum stehen zwanzig Angestellte der Sparkasse Waiblingen auf Betriebsausflug. Sie tragen Wollmützen, Stirnbänder und bollenwarme Fäustlinge. Seine längste Stadtführung habe fünfeinhalb Stunden gedauert, sagt Schuler, wenn er mal anfange zu erzählen, ui ui ui, aber mittlerweile habe er sich da besser im Griff, "gell, Nico". Der weiche braune Hund auf Kniehöhe spitzt die Ohren, dann pinkelt er ein paar Tropfen an einen Bauzaun.

Schuler wird die reiche Landeshauptstadt an diesem Winterabend von ihrer Kehrseite vorstellen. "Wir gehen nur da hin, wo Obdachlose, Alkoholiker und Heroinabhängige sind." In die fast unsichtbare Zwischenwelt von Stuttgart. Für die ist Schuler eine Kompetenz. Seit 30 Jahren lebt er in der Stadt, fünf davon war er obdachlos. Auf dem Weg zur Leonhardskirche, die jedes Jahr nach Weihnachten zur Vesperkirche wird, zeigt er an einem Treppenabgang zu einem Parkhaus. "Meine Sommerresidenz", sagt er. "Schön luftig, aber scheiße, wenn's regnet."

Stehen bleiben ist bei so mancher "Sehenswürdigkeit" dieser besonderen Stadtführung eher fehl am Platz, Vieles gibt's nur aus der Ferne zu sehen – "da drüben, die Straße runter, ungefähr bei der vierten oder fünften Laterne" – aus Sicherheitsgründen und weil mancher genaue Standort wirklich keinen etwas angeht, der nicht wirklich Hilfe benötigt. "Und bitte – Abstand halten, damit sich die Leute nicht wie im Zoo fühlen."

Thomas Schuler hat eine Ausbildung zum Koch gemacht, später in guten Restaurants gearbeitet. 22 Jahre lang hat er gesoffen, zum Ende hin vier Flaschen Wodka täglich, 2,8 Promille Blutalkohol "im Schnitt", 6,95 waren sein Maximum. "Andere wären da schon längst umgefallen." Aber anstatt für den sicheren Tod durch Suff hat er sich am 17. Februar 2002 für die Liebe entschieden und einen Entzug begonnen. Seitdem ist er trocken. Erst kürzlich hat er seine kleine, zarte Frau zum zweiten Mal geheiratet.

Einer aus der Gruppe fröstelt bei schneidendem Wind. Kalt sei es erst ab zehn Grad Minus, sagt Schuler und zündet sich eine Kippe an. Derzeit könne man ja sogar noch draußen schlafen. Gegen die herannahende Kälte, sagt er, gebe es die Wärmestuben, wie die Franziskusstube. "Wer gleich morgens kommt, muss zehn Minuten früher da sein, weil Schwester Margret, die gute Seele, den Tag mit einem Gebet beginnen will." Ohne Schwester Margret, sagt Schuler, seien viele in der Szene aufgeschmissen.

Hier irgendwo sei seine "Stadtwohnung" gewesen, erzählt der Stadtführer und macht eine ausladende Bewegung über den gesamten Parkplatz unter der Paulinenbrücke. Über ihm rauscht der Feierabendverkehr. Sein "Wochenendhaus" war am Fernsehturm. "Wo denn da?", fragt einer. Schuler grinst, "Nene, Platte wird nicht verraten." Im Hintergrund gräbt Nico, der Hund, begeistert ein neues Erdloch zwischen drei alte in einen Grünstreifen.

Ein paar Meter weiter, Rupert-Mayer-Platz, Drogenszene. Bis zu 400 Euro brauche ein Heroinabhängiger am Tag, erklärt Schuler. Und weil das halt viel sei, gebe es Gruppen von Süchtigen, die sich zusammenschließen, zusammen Geld besorgen, zusammen Drogen beschaffen, zusammen konsumieren, "meistens mit einer Spritze. Joa. Und dann hat der Dritte in der Gruppe Hepatitis." Der Stuttgart Drogenstrich liege mit zehn Euro pro Kunde auf Platz drei der Billig-Sex-Liste in Deutschland. Leipzig sei mit fünf Euro noch billiger als Berlin. "Und die meisten sogenannten Kunden wollen immer noch ohne Gummi", sagt Schuler. "Puh", macht eine Dame. "Ja, es gibt einiges, was ganz schön schrecklich ist."

Hund Nico knabbert ein Bäumchen an, das von der letzten Stadtführung noch angefressen aussieht. Schuler zeigt über die Hauptstätter Straße: Sozialamt, "da gibt's Isomatten und Penntüten, äh, Schlafsäcke für Leute, die auf der Straße leben." Rund 6000 rund um die Landeshauptstadt. 21 000 in Baden-Württemberg. 950 000 sind es in ganz Deutschland, die derzeit kein Dach über dem Kopf haben. Tendenz steigend. 

Wie man denn die Kurve kriegt, wenn man so tief drinstecke, fragt einer mit gestreiftem Strick-Stirnband. "Man muss es halt wollen", sagt Schuler und steckt sich eine neue Kippe an. Seit dreizehn Jahren ist er trocken. Seit einem Jahr kann er seine Miete selbst bezahlen. Schuler drückt auf die Ampel. Auf der anderen Straßenseite leuchtet das rote-weiße "Trott-War"-Schild an einem Haus. "Das fühlt sich hier ganz toll an", sagt er und legt die Hand auf sein Herz.


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1 Kommentar verfügbar

  • Insider
    am 22.01.2016
    Antworten
    Hat Landesmutter Gerlinde Kretschmann von den "Trott-War"- Führungen Kenntnis? Ihre Wanderfreunde aus Laiz hat sie im zurückliegenden Jahr bei einer "Stäffelestour" mit den Schönheiten von Stuttgart vertraut gemacht. Die Laizer Gruppe würde bestimmt auch zusammen mit Gerlinde Kretschmann und dem …
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