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Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung"

Gleise weg

Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung": Gleise weg
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Am Stuttgarter Nordbahnhof erinnerten Gleise an Deportationen in NS-Vernichtungslager. Fraktionen im Gemeinderat wollten sie dauerhaft erhalten. Doch jetzt sind die meisten Gleise weg. Das Vorgehen der Stadt wirft Fragen auf.

"Die Gleise, die Schienen, die Schwellen, die Prellböcke im Inneren Nordbahnhof, also der Ort, an dem die Menschen gezwungen wurden, die Züge zu besteigen, waren noch da." So beschreibt die Website des Vereins "Zeichen der Erinnerung" den Grundgedanken hinter der gleichnamigen Gedenkstätte am Inneren Nordbahnhof Stuttgart: "Diese Spuren sollten nicht verwischt werden, sondern als Erinnerungsort an das grausame Geschehen bewahrt werden." Seit 2006 gibt es die Gedenkstätte, initiiert wurde sie von der Stiftung Geißstraße, die die Stadt erst in langen und mühevollen Verhandlungen davon überzeugen musste, das Gelände nicht als Baugrund zu verkaufen.

Von dem Güterbahnhofsareal wurden zwischen 1941 und 1945 fast 2.900 Menschen in die Konzentrationslager von Riga, Izbica, Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt deportiert. Die Gleise, die aus der Gedenkstätte herausführen, bevor sie nach ungefähr 300 Metern in einer leichten Linkskurve aus dem Blickfeld verschwinden, sind der sichtbare Ausdruck davon.

Doch am Montag, den 10. November wurden Schienen und Schwellen im Vorfeld der Gedenkstätte herausgerissen. Nicht alle: aber drei der fünf Gleise sind weg. Dabei hatten die Gemeinderatsfraktionen SPD, SÖS-Linke und FDP schon am 24. Juni 2024 einen Antrag gestellt, sie dauerhaft zu erhalten. "Neben der Gedenkstätte wird die Gleisfläche gesichert", lautet eine Forderung darin. "Antrag in Bearbeitung", teilt das Ratsinformationssystem heute, eineinhalb Jahre später, mit. Die Gleise aber sind bereits verschwunden.

"Das ist nicht so gelaufen, wie man sich das vorstellen sollte", sagt Udo Lutz, der den Antrag für die SPD-Fraktion federführend bearbeitet hat, heute allerdings nicht mehr im Gemeinderat sitzt. "Der Antrag ist am 4. November im Schnelldurchgang beantwortet worden. Der Verein Zeichen der Erinnerung war in keinster Weise eingebunden. Es gab kein Gespräch über mögliche Spielräume, wie das Umfeld der Gedenkstätte hätte gestaltet werden können. Nach eineinhalb Jahren muss eine solche qualifizierte Antwort möglich sein."

Am 4. November ist das Thema im Ausschuss Stuttgart 21/Rosenstein als zweiter von vier Tagesordnungspunkten behandelt worden. Die Bahn habe den Rückbau der Gleise beantragt, bekamen die Ausschussmitglieder zu hören, das Eisenbahn-Bundesamt habe dies vor einem Jahr, am 25. November 2024 genehmigt. Die Bahn wolle auf dem Areal Mauereidechsen ansiedeln. Darüber hätten sich Bahn und Stadt mit Andreas Keller, dem Vorsitzenden des Vereins "Zeichen der Erinnerung", noch einigen können. Beim Rundgang über das Areal im März schlug Keller vor, wenn die Bahn nicht wisse, wohin mit den gleich nebenan abgesammelten Tieren: Auf dem Schotter der Gedenkstätte und ihres Vorfelds sei Platz genug. Das Umweltamt hat im Juli bestätigt, dass dies möglich sei.

Kürzere Wartezeit für obskuren Kriegsenkel

In ihrer insgesamt etwas undurchsichtigen Kommunikationsstrategie beruft sich die Stadt im mündlichen Bericht vor Gemeinderäten auf einen obskuren "Stuttgarter Kriegsenkel", der mit der Bitte an sie herangetreten sei, wenigstens zwei der fünf Gleise zu erhalten. Und während ein fraktionsübergreifender Antrag seit eineinhalb Jahren der Bearbeitung harrt, ging es in dem Fall schneller. Nach ämterübergreifenden Abstimmungen habe die Stadt daraufhin am 23. September der Bahn mitgeteilt, sie könne auf die Entfernung des Schotters und zweier Gleise auf einer Länge von 200 Meter verzichten. Ganz am Ende des mündlichen Berichts war dann noch von einer Mitteilung an den Verein Zeichen der Erinnerung die Rede.

Andreas Keller weiß davon nichts. Bei ihm hat sich niemand gemeldet. Er hat bereits im Juli, als ihn die Stadt mit der Otto-Hirsch-Auszeichnung ehrte, an Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) geschrieben: "Wir bemühen uns seit Jahren darum, dass das Gleisfeld vor der Gedenkstätte" erhalten werde. Doch eine Antwort Noppers steht aus. Bleibt abzuwarten, ob Udo Lutz mehr Erfolg hat. Er hat dem Chef der Verwaltung ebenfalls einen Brief geschrieben, in dem er moniert, wie "durch den Abbau von drei Gleisen Fakten geschaffen" wurden.

Die Reaktionen der in der Gedenkstättenarbeit Aktiven sind einhellig. "Es ist eine Unverschämtheit, den Antrag einfach nicht zu behandeln und mit dem verdienten Andreas Keller nicht das Gespräch zu suchen", protestiert Michael Kienzle, Vorstand der Stiftung Geißstraße. Er hat 2001 mit einem "Denkblatt" den Anstoß zur Einrichtung der Gedenkstätte gegeben. "Die Empörung über das Verfahren ist völlig berechtigt", sagt Kienzle.

Gedenkorte erst nach Druck der Zivilgesellschaft

"Wir finden vor allem beunruhigend, dass die Gedenkstätte Zeichen der Erinnerung nicht in die Planung einbezogen ist", stimmt Elke Banabak im Namen des Hotel-Silber-Vorstands zu. "Dass ein Antrag mehrerer Gemeinderatsfraktionen zu dem Thema seit 2024 nicht beantwortet wird, und dass man stattdessen auf diese Art mit der Entfernung von drei von fünf Gleisen vollendete Tatsachen schafft, ist respektlos und auch eine grobe Missachtung öffentlichen Interesses."

Stuttgart habe nur zwei wichtige Erinnerungsorte, hat die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, Professorin in Konstanz, im Juli bei der Vorstellung der städtischen Leitlinien zum Thema festgehalten: Zeichen der Erinnerung und Hotel Silber. Beide seien vor allem dem Druck der Zivilgesellschaft zu verdanken, während die Stadt lange gezögert habe. Bleibt nur zu ergänzen, dass es viele weitere Gedenkorte gibt, wenn auch zumeist gut getarnt, kaum sichtbar oder abgelegen.

"Zeichen der Erinnerung ebenso wie Hotel Silber kamen nur durch das Engagement der Zivilgesellschaft zustande", unterstreicht auch Kienzle. "Stuttgart müsste gelernt haben, mit solchen sensiblen Themen anders umzugehen", findet Udo Lutz. Und auch Banabak wundert sich: "Ich dachte tatsächlich, wir wären da in Stuttgart inzwischen etwas weiter in der Art, wie Erinnerungskultur erklärtermaßen partizipativ und verbindlich zusammen mit der Zivilgesellschaft entwickelt wird. Dazu gehört doch auch der Umgang mit den Erinnerungsorten. Das kann man gerade in so einem Fall nicht einfach über Bord werfen."

Dass OB Nopper ein halbes Jahr nicht auf Kellers Brief antwortet und dann vollendete Tatsachen schafft, kann nur als Affront gegenüber dem Träger der Otto-Hirsch-Auszeichnung gewertet werden, bestenfalls als plumpe Ignoranz gegenüber allen Belangen der Erinnerungsarbeit. Alle Befragten halten es deshalb für dringend geboten, dass die Stadtverwaltung mit Keller Kontakt aufnimmt und den Verein in die weitere Gestaltung einbezieht.

Noch ist was zu retten

Denn noch ist nicht alles verloren. Genau genommen handelt es sich bei der Entscheidung, zwei Gleise auf einer Länge von 200 Meter liegen zu lassen, um einen Kompromiss – wenn auch um einen völlig seltsamen. Noch im März hatte die Stadt auf Kontext-Anfrage geantwortet, die "Gleisanlagen außerhalb der Gedenkstätte werden durch die DB zurückgebaut. Für diesen Rückbau besteht ein Planfeststellungsbeschluss." Gespräche mit dem Verein Zeichen der Erinnerung würden, "sobald es einen neuen Stand gibt, wieder aufgenommen".

Das ist nicht passiert, stattdessen wird nun die Einrichtung eines Eidechsenhabitats vorangetrieben. Wer jemals eine Eidechse auf Bahnanlagen beobachtet hat, weiß indes, dass sie ohne Probleme unter den Schienen hindurchwitschen. Aber für die städtischen Behörden gilt offenbar: Fünf Gleise sind zu viel, mit zweien kommen die Reptilien zurecht.

Dieses Schubladendenken ist auch an einem städtebaulichen Modell des Areals zu beobachten, das im Foyer des Rathauses ausgestellt ist. Deutlich erkennbar ist das Gleisvorfeld der Gedenkstätte entlang der künftigen Bebauung. Aber der 200-Meter-Abschnitt, der nun mit nur zwei Gleisen erhalten bleiben soll, ist an beiden Enden durch eine Baumreihe abgetrennt. Wer dieses Modell gebaut hat, hat den Grundgedanken des Gedenkorts nicht begriffen: dass der Blick über die Schienen fällt, bis sie aus dem Blickfeld verschwinden.

Eben deshalb müssen, wie Banabak schreibt, "die Aktiven des Vereins Zeichen der Erinnerung, die mit ihrem ehrenamtlichen Engagement die Stuttgarter Gedenkstätte (seit 2006) im Interesse aller erhalten, Kontakte zu Überlebenden und ihren Nachkommen halten, Gedenkfeiern organisieren und die Erinnerung wachhalten, allerspätestens jetzt in die weiteren Gestaltungspläne einbezogen werden". Kienzle hält fest: "Wenn die beiden Gleise bleiben und vielleicht noch die Hecke zwischen Gedenkort und Vorfeld entfernt wird, ist der Sinn der Erinnerungsstätte gewahrt."

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