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Grünes Landtagswahlprogramm

Noch kein Bestseller

Grünes Landtagswahlprogramm: Noch kein Bestseller
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Es tönt wie aus der Mottenkiste: Die Grünen im Land klammern sich an ihren alten Slogan, wonach mit ihren Ideen schwarze Zahlen zu schreiben sind. Ihr Programm für die Landtagswahl am 8. März 2026 wartet nach 15 Jahren Regierungszeit mit Optimismus auf, aber auch mit einigen Leerstellen – und einer Überraschung.

Seit Wochenanfang sind die rund 90 Seiten zur Zukunft im "Land der Möglichkeiten" für Grünen-Mitglieder öffentlich. Die Debatte ist also gestartet, Mitte Dezember wird der Landesvorstand der Partei den Entwurf den Basisvertreter:innen auf einen Parteitag in Ludwigsburg zur endgültigen Befassung vorlegen. Der Grundsound "Wer wenn nicht wir" soll zum dritten Mal in Folge nach 2016 und 2021 Platz eins sichern helfen und damit eine grüne Nach-Kretschmann-Ära einleiten.

Wahlprogramme sind selten Bestseller. "Parteien schreiben auf, welche Ideen sie für das Zusammenleben in Deutschland haben", erläutert die "Bundeszentrale für politische Bildung": Wie es für alle möglichst gerecht zugehen könne, wie möglichst viele erfolgreich sein können "und alle mehr zusammenhalten". Dieses Soll haben die Grünen durchaus erfüllt. Sollten sie von sich in ihrem Selbstverständnis als neue Baden-Württemberg-Partei mehr verlangen, sind die Autor:innen kreativer Änderungsanträge gefragt. Die über weite Strecken staatstragende Prosa könnte so manche Würze gut vertragen.

Klimaschutz: entschlossen und nebulös

Beim Klimaschutz präsentieren sich die Südwest-Grünen antizyklisch: Trotz oder gerade wegen der Rückreihung des Themas auf der Dringlichkeitsskala der Wählerschaft streicht die Partei ihren Markenkern besonders heraus. Die Zeitläufte könnten ihr in die Hände spielen. Im November findet die nächste UN-Klimakonferenz in Belém in Brasilien statt und wird den Kampf für den Klimaschutz dahin rücken, wohin er gehört angesichts einer galoppierenden Erderwärmung: ins Zentrum des Interesses von Politik und Wahlvolk.

"Entschlossen" sollen laut Programm die Weichen dafür gestellt werden, dass Baden-Württemberg tut, was es kann. Konkret: spätestens 2040 klimaneutral werden. Was unter anderem heißt, an den Zielen für einzelne Sektoren, Gebäude, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und Energie festzuhalten. Und das trotz des Widerstands beim derzeitigen Juniorpartner CDU und in weiten Teilen der Wirtschaft. So dass mit Blick auf künftige Koalitionsverhandlungen mit Spannung erwartet werden kann, was aus diesem Satz des Entwurfs noch wird: "Es darf keine Abschwächung der Klimaziele und der Sektorziele geben."

Anderes ist elegant umschifft worden – und damit erst recht eine Herausforderung für grüne Wahlkämpfer:innen. Wenn Änderungsanträge aus der Mitgliedschaft nicht noch zu einer Präzisierung führen, soll der so heftig diskutierten Zukunft von Verbrennermotoren ab 2025 reichlich nebulös begegnet werden. Mit Sätzen wie "Den internationalen Wettbewerb werden wir nur dann gewinnen, wenn wir weiterhin voll auf die Technologieführerschaft beim E-Auto setzen" sind Debatten schwerlich zu bestehen, nicht im Straßenwahlkampf und nicht auf großen Podien.

Gerechtigkeit: Allgemeinplätze statt kreative Ideen

Geradezu hasenfüßig ausgefallen ist die Positionierung bei zentralen Gerechtigkeitsfragen. Die Südwest-Grünen, seit Jahrzehnten bekanntlich von den Realos bestimmt, versprechen – wenig überraschend – selbstverständlich Steuergerechtigkeit, die "für uns klar politische Priorität hat". Wer nach dieser Einleitung auf kreative und nachhaltige Ideen zur maßvollen Unterteilung hofft, wird enttäuscht. Denn richten soll es vor allem die "Nachwuchsgewinnung in der Steuerverwaltung; Jede*r Ermittler*in der Steuerfahndung bringt im Durchschnitt eine Million Euro für das Gemeinwohl".

Weit und breit kein Gedanke, hohe und höchste Vermögen sowie abenteuerliche und mit dem sonst so gern gepredigten Leistungsprinzip unvereinbare Spitzeneinkünfte etwas mehr zur Kasse zu bitten. Wenigstens soll Steuerbetrug konsequent bekämpft werden, denn: "Wer ehrlich ist, darf nicht der Dumme sein." Auch der Evergreen "Neuverteilung der Gemeinschaftssteuern zwischen Bund, Länder und Kommunen" kann zur Profilierung wenig beitragen, weil oft gefordert, aber nie erreicht. Immerhin geplant zur finanziellen Stärkung vor Ort ist ein neues Bürgerenergiegesetz, "um Kommunen zusätzliche Einnahmen durch den Ausbau von Windkraft zu ermöglichen".

Ohnehin tappen die Grünen in die Falle lange regierender Parteien. Denn nach fast 15 Jahren muss die Frage erlaubt sein, warum es – siehe oben – solch Dumme noch gibt im Land, und warum Steuerbetrüger:innen nicht längst viel härter zugesetzt wird. Wenn "Effizienz, Wirkung und Zielgenauigkeit" versprochen wird, verrät diese Anhäufung von Synonymen den Versuch, eigene Ratlosigkeit zu vertuschen. Die Zusage, in einem "Neuen Wir" zusammenzustehen, lässt erst recht reichlich PR-Sprech erkennen. 

Eigenlob und Beißhemmung gegenüber der CDU

Mit warmen Worten wird schon Erreichtes herausgestellt, so beispielsweise die bundesweite Vorreiterrolle bei der "Politik des Gehörtwerdens". Oder die Vereinbarung von Ökologie und Ökonomie, die "von Beginn an unser Leitstern" war – und "der Erfolg gibt uns Recht". An anderer Stelle heißt es: "Nirgendwo sonst in Deutschland werden Windkraftanlagen heute so schnell genehmigt wie in Baden-Württemberg." Genehmigt – von Bau und Inbetriebnahme ist da keine Rede.

Schon eher auf der Habenseite zahlt eine Stilfrage ein: Das Programm verzichtet weitestgehend auf Polemik oder auf Untergriffe. An einer Stelle wird der Bund kritisiert, weil er "leider auf starre, altbackene Gaskraftwerke" setze. Auch wird die Idee einer Änderung der Gemeindeordnung bekräftigt, um Kommunen vergünstigte Kredite für Investitionen in Energie- und Wärmewende zukommen zu lassen. Hätte sich das von Thomas Strobl (CDU) geführte Landesinnenministerium nicht widersetzt, könnte dieser Plan der grünen Umweltministerin Thekla Walker längst umgesetzt sein. Ross und Reiter nennen will der Landesvorstand aber nicht.

Ebenso gekennzeichnet vom Bemühen, den gegenwärtigen Koalitionspartner, der gut auch der nächste sein könnte, nicht über Gebühr zu reizen, sind die Kapitel Innen und Bildung. Heikle migrationspolitische Fragen, etwa der sogenannte Spurwechsel von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt oder die Aufnahme weiterer Jesidinnen, werden nicht einmal gestreift.

Bildung: Mutlosigkeit und Biedermeiersätze

Und im Schulkapitel hat das wirklich Konkrete Patina angesetzt, etwa die Absicht, allen Kindern vor dem Start in die erste Klasse ein verpflichtendes und gebührenfreies letztes Kita-Jahr anzubieten. Oder das Ziel, Grundschullehrkräfte nach Besoldungsgruppe A 13 zu bezahlen, worauf sich Grüne und SPD schon zwischen 2011 und 2016 nicht hatten einigen können. Konfliktträchtige Erwägungen, etwa eine Neustrukturierung des extrem zerfaserten Schulsystems, werden in eine Enquêtekommission verschoben, für die nicht einmal der gute alte Spruch gilt: "Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis." Denn schließlich ist unter Fachleuten längst Allgemeingut, dass es nach vier Jahren Grundschule nicht weitergehen kann auf sieben unterschiedlichen Wegen, von der Hauptschule bis zum G9.

Die grüne Kultusministerin Theresa Schopper straft sich auf diese Weise auch selber Lügen, weil ihr Credo seit Beginn der zweiten Legislaturperiode der Grünen an der Seite der CDU lautet, sie müsse mit den vorgefundenen Realitäten zurechtkommen. Jetzt könnte sie gemeinsam mit ihrer Partei versuchen, neue und tragfähige Strukturen zu entwickeln mit einem schon 2011 ursprünglich angestrebten Ziel: der Zweigliedrigkeit aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule. Im Entwurf des Wahlprogramms kommt ähnlich Fortschrittliches nicht einmal im Ansatz vor. Stattdessen Biedermeierformulierungen aus dem 1990er-Jahre-Schatzkästlein vom früheren CDU-MP Erwin Teufel: "Das Wertvollste, was wir haben, sind unsere Kinder und Jugendlichen." 

Beim Thema Wohnen wirkt der Druck von links

Dafür finden sich einige wenige Kleinodien, gut versteckt, die bemerkenswerte Wirkung entfalten könnten. Mit "Überall gut leben" ist Kapitel vier überschrieben. Beim Parteitag der Linken kürzlich in Leinfelden-Echterdingen hat der Bundesvorsitzende Jan van Aken ein Potenzial von zehn Prozent in Baden-Württemberg für seine Partei ausgemacht, "Wind von links" versprochen und Druck speziell beim Thema Wohnen. Dieses sei zu wichtig, "um es dem Markt zu überlassen: Vonovia und Co. enteignen!", heißt es kämpferisch im Wahlprogramm der Linken. Dahinter bleiben die Südwest-Grünen erstaunlicherweise kaum zurück: Sie wollen Vonovia-Wohnungen und andere "Großbestände von privaten Wohnungsunternehmen" dank einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft gezielt zurückkaufen und mit einem neuen Förderprogramm Kommunen den Erwerb von Wohnraum ermöglichen. 

Ein richtiger Knaller könnte im Fall der Verwirklichung die Forderung werden, "nicht nur auf Neubau zu setzen, sondern auf einen wirksamen Mieterschutz, auf die kluge Umnutzung bestehender Gebäude, bezahlbare Standards beim Bau, auf gemeinschaftliche und inklusive Wohnformen". Das alles "mit gezielter Unterstützung für Menschen, die sonst durchs Raster fallen" und – Wien lässt freundlich grüßen – "mit einer öffentlichen Hand, die selbst baut".

Die Landesspitze der Grünen hält das Thema Wohnen für eines, das die kommenden Monate zentral bestimmen wird. Und hier ist das Eis für den erfolgsverwöhnten Landesverband ganz besonders dünn. Denn wenn die bundesweit herausragenden Spitzenergebnisse aus dem Jahr 2021 von bis zu 40 Prozent in Städten nicht wenigstens annähernd erreicht werden können, wird es für die Partei noch enger werden als ohnehin im Kampf um Platz eins (nach den jüngsten Umfragen liegen die Grünen im Land auf Platz drei hinter CDU und AfD). In anstehenden Koalitionsverhandlung könnte das Wahlprogramm unter Feinschmecker:innen dann doch noch zum Bestseller werden. Weil dann Verhandler:innen mit Geschick zeigen müssen, welche der in ihm formulierten Worte das Papier wert sind, auf dem sie stehen.

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