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Kinder und Social Media

Stoppschild

Kinder und Social Media: Stoppschild
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Fachleute empfehlen der Bundesregierung dringend, Regeln und Verbote für den kindlichen und jugendlichen Gebrauch von Social Media festzulegen. Wenn der Grüne Cem Özdemir ähnliche Forderungen erhebt, sticht er in ein Wespennest.

Die alten Reflexe funktionieren wie eh und je – und vermitteln schon im Hochsommer 2025 einen Eindruck von der Tonlage im längst ausgebrochenen Landtagswahlkampf für den Urnengang im März 2026. "Da ist sie wieder, die grüne Verbotspartei", krakeelt Hans-Ulrich Rülke, Landeschef der baden-württembergischen FDP und Fraktionsvorsitzender im Landtag.

Aus der Sicht des früheren Gymnasiallehrers geht ein Social-Media-Verbot für Kinder "vollkommen an der Realität vorbei". Und namens seiner CDU-Fraktion hat der bildungspolitische Sprecher Andreas Sturm herausgefunden, dass dieser Cem Özdemir "den Super-Sheriff geben" und "alles verbieten will, was Schwierigkeiten macht". Dieser ständige Verbotsreflex sei "repressiv, einfallslos und Ausdruck einer Geringschätzung der Bürger". Am Lebensgefühl junger Menschen gehe das alles ohnehin vorbei und Özdemir zeige, "dass er ihre Lebenswirklichkeit nicht versteht". 

Letzteres ist ziemlich unwahrscheinlich, da der grüne Spitzenkandidat bei der bevorstehenden Landtagswahl Vater von zwei Kindern im Alter von 15 und 19 ist – womöglich will er gerade deswegen ein Stoppschild aufstellen mit seinem Vorschlag einer Altersgrenze von 16 Jahren. Bis dahin solle die "unbegleitete Nutzung" untersagt sein, denn Kinder und Jugendliche müssten einen verantwortungsvollen Umgang mit Smartphones und Medien lernen. Özdemirs Vergleich: Jugendliche würden nicht einfach ohne Führerschein hinters Steuer gelassen. Vielmehr gebe es da Fahrstunden, also ein schrittweises Heranführen, "und so müssen wir es auch mit den sozialen Medien halten". 

CDU-Ministerpräsident wollte "Internetführerschein"

Die Idee hat Patina und war auch mal bei der Union beliebt. In seiner ersten Regierungserklärung nach der Landtagswahl 2001 stellte Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) einen "Internetführerschein für alle" in Aussicht, um so dafür zu sorgen, dass moderne Medien die Menschen verbinden und nicht die Gesellschaft spalten. Das sollte sich in den neuen Bildungsplänen niederschlagen, die im Südwesten 2004 für jede Schulart vorgelegt wurden. Allerdings zeigte sich schnell, dass ein neuer Schwerpunkt Medienkompetenz schon allein wegen der ungenügenden Ausstattung der allermeisten Schulen im Land nicht zu realisieren ist. 

2016 versuchte der damals frisch gekürte Innen- und Digitalisierungsminister Thomas Strobl (CDU), "das Ende der Kreidezeit" auszurufen. Und weitere neun Jahre später, konkret in der vergangenen Woche, verlangt ein Team der "Leopoldina", der Nationalen Akademie der Wissenschaften, bundesweit "in Kindertageseinrichtungen und Schulen einen digitalen Bildungskanon zu verankern und fächerübergreifend zu unterrichten, der auf zentrale Aspekte des digitalen Lebens vorbereitet". 

Bis es so weit ist, fordern die Fachleute der Leopoldina in ihrem 76-seitigen Papier mit dem Titel "Soziale Medien und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen" ein "striktes und wirksames Nutzungsverbot" für Kinder unter 13 Jahren sowie bis zum Alter von 17 eine altersgerechte Gestaltung der sozialen Medien und Netzwerke, "was eine deutliche Einschränkung der bisherigen Funktionalität bedeutet".

In seiner Reaktion auf den Özdemir-Vorstoß meint der Liberale Rülke, die Frage sei ungeklärt, wie die Nutzung überhaupt kontrolliert werden soll. Auch zu diesem Thema ist Expertise vorhanden und abrufbar. So verweisen die Expert:innen von der Leopoldina auf die Einführung der Europäischen Digitalen Geldbörse oder European Digital Identity Wallet (EUDI-Wallet). Deren Hauptzweck ist eine digitale Hinterlegung von Identifizierungsmitteln, zum Beispiel bei der Eröffnung eines Bankkontos. Und damit wird zwangsläufig eine Altersverifikation verbunden, die für den Umgang mit sozialen Medien adaptiert werden könnte. 

Algorithmen pushen Extremismus

Problematisiert ist in der Analyse auch der Gegenvorschlag von CDU oder FDP, Kindern, Jugendlichen oder ihren Eltern die Verantwortung für eine Verhaltensregulierung zu übertragen. Etwa durch freiwillige Einschränkungssysteme, die nach einer bestimmten Zeitspanne keine weitere Nutzung zulassen. Laut Leopoldina ist das zu wenig: Denn zuerst einmal müssten alle Betroffenen Kenntnis davon haben, dass solche Systeme existieren, dann selbst aktiv werden und die Technik richtig anwenden. Dies sei eine hohe Hürde. Außerdem verzichteten viele Eltern auf eine restriktive Regulierung der sozialen Mediennutzung ihrer Kinder, um deren soziale Teilhabe nicht zu gefährden.

Jugendschutz

Die Leopoldina schlägt vor, gemeinsam mit der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) eine Liste von Inhalten zu erarbeiten, die nur Erwachsenen zugänglich und dementsprechend für Kinder und Jugendliche verboten sind. Diese Liste könnte unter anderem Folgendes umfassen: Für Konten von Unter-18-Jährigen ein Verbot von Werbung für Produkte und Inhalte, die die psychische und physische Gesundheit gefährden können, von personalisierter Werbung, der Generierung von Nutzungsprofilen, von Partneranzeigen sowie, nur altersgerechte algorithmische Vorschläge zuzulassen. Für die Konten von 16-Jährigen ergänzend dazu ausschließlich Inhalte und Interaktionen mit bereits bestätigten Kontakten, keine Live-Streamings, keine Push-Nachrichten oder kein endloses Scrollen. Unbestritten wissen auch die Wissenschaftler:innen, dass und wie sich der Alltag von Kinder und Jugendlichen dadurch entscheidend verändern würde. Allerdings ist genau das gewollt.  (jhw)

Dabei ist Gegensteuern dringend geboten. Denn in dem Papier, das sich als Diskussionsgrundlage versteht, sind viele Daten und Fakten zusammengetragen. Danach nutzen beispielsweise schon zehn Prozent der Sechs- bis Siebenjährigen, 17 Prozent der Acht- bis Neunjährigen, 46 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen und 71 Prozent der Zwölf- bis Dreizehnjährigen mindestens einmal pro Woche TikTok.

Das wiederum ist bekanntlich die Plattform, die von Jugendlichen besonders gerne besucht wird. Wie die Uni Potsdam schon vor einem Jahr ermittelte, haben die offiziellen TikTok-Kanäle der AfD mit über 730.000 Follower:innen deutlich mehr Reichweite als die Kanäle anderer Parteien. Und in den ostdeutschen Ländern erreicht die rechtsextreme Partei doppelt so viele Nutzer:innen wie alle anderen Parteien gemeinsam – auch weil der TikTok-Algorithmus extreme Inhalte begünstigt. 

Das Leopoldina-Team lässt Politisches beiseite, beschreibt aber, welche Funktionen vor allem für Kinder und abgestuft für Jugendliche bis 18 nicht verfügbar sein dürften: Suchtgefährdendes und Inhalte, die sich offensichtlich nur an Erwachsene richten.

Medienbildung ist allseits gewünscht

Özdemir und seine Kritiker eint immerhin der Verweis auf die Bedeutung von Medienbildung. Der frühere Bundeslandwirtschaftsminister, der einige Monate nach dem Ende der Ampel auch das Wissenschaftsministerium übernahm, verlangt, "im frühen Alter" anzusetzen. CDU-Experte Sturm will "Social Media nicht einfach wegsperren, die Medienkompetenz fördern und den konstruktiven Umgang mit digitalen Plattformen lernen".

Dagegen rät die Leopoldina, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen: "In Kindertageseinrichtungen und Schule muss ein digitaler Bildungskanon verankert und fächerübergreifend unterrichtet werden, der auf zentrale Aspekte des digitalen Lebens vorbereitet, und damit meinen wir sowohl den souveränen und reflektierten Umgang mit sozialen Medien als auch das Wissen über Chancen und Risiken der Digitalität in unserer Gesellschaft." Aber eben nicht nur, denn formuliert ist auch eine lebenspraktische Empfehlung, die Eltern und Lehrkräfte aus der Seele sprechen wird, weil sie einem unter Kinder und Jugendlichen allgegenwärtigen Verhalten entgegenwirkt.

Die Wissenschaftler:innen verlangen, Plattformbetreiber zu verpflichten, in die Nutzungserfahrung von Jugendlichen Pausen einzubauen. Damit würde das Dauerdaddeln automatisch unterbrochen und kann erst zeitverzögert oder durch bremsende Fragen ("Willst Du eine Pause einlegen?") wieder aufgenommen werden – dank einer Sperre, die auch die pfiffigsten User:innen nicht umgehen können. 

Beim grüngeführten baden-württembergischen Kultusministerium laufen die Leopoldina-Erkenntnisse und der Spitzenkandidat ohnehin offene Türen ein. "Soziale Medien sind längst ein elementarer Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen", sagt ein Sprecher. Wegen der Risiken, etwa Indoktrination, müssten aber klare Regeln gesetzt werden, "wie es die Gesellschaft in vielen anderen Bereichen auch getan hat, bei Filmen, beim Zugang zu Alkohol, beim Eintritt in bestimmte Einrichtungen oder Ausgehzeiten". Eine Aufzählung, die nicht nur die Möglichkeit sinnvoller Verbote und Einschränkungen unterstreicht, sondern die eindrucksvoll verdeutlicht, dass die Verantwortung für sinnvollen Gebrauch und altersgerechtes Vorgehen niemals Eltern, Großeltern oder Lehrkräften allein zugeschoben werden darf.

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