Melzer hält dagegen. Selbst wenn das so wäre, würden die Botschaften im O-Ton verbreitet und fänden ihr Publikum. Allein dadurch, dass sie im Fernsehen ausgestrahlt werden, bekämen die Positionen den "Anschein einer gewissen Normalität". In diesem Zusammenhang spricht er von einer "Verschiebung des Sagbaren". Offener Rassismus sei gesellschaftlich zwar noch immer geächtet. So geben in der FES-Studie 85 Prozent der Befragten an, dass sie Zuwanderung grundsätzlich als bereichernd für kulturelle Vielfalt empfinden. Vorurteile würden aber, so Melzer, vor allem transformiert zum Vorschein kommen. Etwa indem sie sich "über den Umweg einer vermeintlichen Kritik artikulieren".
Der Anteil von harten Fremdenfeinden selbst sei dabei über die Jahre relativ konstant, betont der Historiker. Er liegt laut der neuen FES-Studie bei etwa 20 Prozent. "Jetzt steht aber ein Ventil offen", sagt Melzer. Meinungen, die noch vor wenigen Jahren auf entschiedene Ablehnung gestoßen wären, gälten zunehmend als zulässig, die Grenzen zwischen nationalkonservativ und rechtsextrem verschwänden immer mehr.
Melzer warnt vor einer Normalisierung der AfD. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gebe es zwar auch in den Reihen anderer Parteien. Aber: "In nahezu allen Dimensionen rechtsextremer und menschenfeindlicher Einstellungen zeigen AfD-Anhängerinnen und -Anhänger die mit Abstand höchsten Zustimmungswerte", so der Befund der Studie. Insbesondere richten sich Abwertung und Ablehnung gegen Muslime, Geflüchtete und – ökonomisch benachteiligte Menschen.
Der Marktradikalismus wird zum Sozialdarwinismus
Der psychologische Mechanismus dahinter ist simpel: Man wertet sich selbst auf, indem man andere abwertet. "Dieser marktförmige Extremismus ist ein vergleichsweise junges Phänomen", sagt Melzer. Die Wettbewerbsmentalität aus der Wirtschaft übertrage sich auf andere Lebensbereiche. Sprich, wer mehr leistet, ist mehr wert. Umgekehrt bedeutet das: "Wir erleben, dass Vorurteile, pauschale Ablehnung und Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen zunehmen." Laut Studie ist diese Denke weit verbreitet: Etwa jeder zweite wertet andere wegen ihrer ökonomischen Stellung ab.
Sollte die Optimierung im Sinne eines "Sich-Durchsetzens auf Kosten anderer" zur Norm werden, so Melzer, drohen neue Formen des Sozialdarwinismus. Davon sei nicht nur die solidarische Gesellschaft bedroht. Die marktradikale Ideologie biete außerdem eine Brückenfunktion für neurechte Bewegungen: Vorurteile finden Anschluss, die Ausländer beispielsweise als "Sozialschmarotzer" darstellen.
3 Kommentare verfügbar
Dieter Kief
am 15.12.2016…