Die massiven Demonstrationen scheinen zu zeigen, dass die Türkei am Scheideweg steht. Wie beurteilen Sie die Lage, Herr Özdemir?
Erdoğan hat Angst vor der nächsten Präsidentschaftswahl – selbst wenn die Wahlen unfair sind. Er fürchtet sich vor starken Konkurrenten wie Ekrem İmamoğlu, die für eine pluralistische Gesellschaft stehen. Erdoğan hat mit Selahattin Demirtaş, dem Vorsitzenden der HDP, schon einmal einen Konkurrenten quasi aus dem Weg geräumt. Demirtaş sitzt seit 2016 ohne nachvollziehbaren Grund im Gefängnis. Das gilt auch für Osman Kavala, einen Kulturmäzen, dessen einziges Vergehen, in Anführungszeichen, darin bestand, sich für die Vielfalt in der Türkei einzusetzen und Demirtaş zu unterstützen. Mich ärgert, dass darüber kaum jemand spricht. Erdoğan weiß natürlich, dass der Westen das Nato-Mitglied Türkei braucht. Aber das darf doch nicht bedeuten, dass wir wegsehen.
Das ist ein hartes Urteil. Woran machen Sie das fest?
Wir dürfen uns nicht blenden lassen. Kurzfristig hat Erdoğan einen Dialogprozess mit dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan eingeleitet. Das wird von manchen als Öffnungsprozess interpretiert. Öcalan hat wie jeder andere auch ein verfassungsmäßiges Verfahren unter fairen Bedingungen verdient. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Öcalan nicht gerade ein pazifistischer Freiheitskämpfer war. Viele Tote säumen seinen Weg, darunter auch Kurden, die seinen Weg nicht gehen wollten. Leute wie Demirtaş hingegen setzen sich ernsthaft und friedlich in der Kurdenfrage ein. In der öffentlichen Wahrnehmung kommen sie zu kurz.
Was für die Demonstrierenden gerade nicht gilt. Zehntausende Menschen sind auf der Straße, trotz Demonstrationsverbot und hohem persönlichem Risiko. Und über Sie wird auch berichtet. Viele Menschen, die sich für die Türkei interessieren, fühlen sich an 2013 erinnert. Da hatte der geplante, später durchgezogene Umbau des Gezi-Parks in Istanbul wochenlange landesweite Proteste ausgelöst. Die sind auch als Ausdruck eines starken Willens in der Zivilgesellschaft gewertet worden, sich für mehr Demokratie einzusetzen. Wo liegen die Unterschiede zur aktuellen Entwicklung? Den Gezi-Park-Demonstrationen war kein Erfolg beschieden.
Die Demonstrierenden im Gezi-Park kamen zunächst aus der Subkultur. Viele haben mit ihnen sympathisiert, es war aber keine Massenbewegung im ganzen Land. Das könnte nun anders werden. İmamoğlu ist wiedergewählter Bürgermeister von Istanbul. Seine Partei war bei den Kommunalwahlen landesweit stärkste Kraft. Für Erdoğan gilt: Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei. Das darf in seinen Augen niemand anderes als er selbst. Hinzu kommt wie gesagt, dass İmamoğlu ein ernstzunehmender Konkurrent bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ist.
Was kann der Westen tun?
Die weltpolitische Lage ist extrem fragil und komplex. Ich bin nicht weltfremd, ich bin Realist. Europa muss geostrategische Interessen vertreten, wir müssen auch mit autokratischen Regimen reden und verhandeln. Aber wir dürfen nicht blind und taub werden. Der türkischen Regierung steht eine zunehmend kritische Zivilgesellschaft gegenüber. Diese können und müssen wir stärken. Wichtig ist auch, dass Medien tatsächlich frei berichten können. Auch das können und müssen wir einfordern. Immerhin möchte die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden, viele Menschen dort richten ihre Antennen gen Westen. Auch sie erwarten, dass wir Klartext sprechen.
6 Kommentare verfügbar
Gerald Wissler
am 31.03.2025Sie sollten mal Ihre eurozentrische Sicht auf die Welt überdenken.
Die Eroberungen der Araber (das ganze christliche Nordafrika, Spanien,…