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Sonderschulden für Verteidigung und Infrastruktur

Pflugscharen zu Schwertern

Sonderschulden für Verteidigung und Infrastruktur: Pflugscharen zu Schwertern
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Auf den letzten Metern der 20. Wahlperiode des Bundestages fahren die Grünen einen der größten Erfolge ihrer Geschichte ein. Unter den treibenden Kräften bei der Reform der Schuldenbremse, im Klimaschutz und in der verteidigungspolitischen Neuausrichtung: die Super-Realos aus Baden-Württemberg.

Schwarz-rot-grüner Kompromiss

Als Union und SPD Verhandlungen mit den Grünen aufnahmen, um sich deren Zustimmung im Bundestag zu dem milliardenschweren Finanzpaket für Verteidigung und Infrastruktur zu sichern, war im Prinzip absehbar, dass Klimaschutz eine Rolle spielen würde. Denn im gemeinsamen Sondierungspapier der voraussichtlich künftigen Koalitionspartner kam das Thema Klima allein indirekt vor, durch die Beibehaltung der bisherigen Ziele. Thorsten Frei, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, empfahl sogar, die Vereinbarungen zur Energiewende als ausreichend zu interpretieren, weil von da "der Weg zum Klimaschutz nicht mehr weit" sei und die Grünen sich auf diese Weise "ein stückweit" wiederfänden. Die allerdings dachten gar nicht daran. Die beiden grünen Fraktionschefinnen Britta Hasselmann und Katarina Dröge verhandelten nicht nur die verfassungsrechtliche Festschreibung der Klimaneutralität bis 2045 in den Kompromiss, sondern auch, dass 100 Milliarden Euro für den Klimaschutz und den Umbau zu einer CO2-neutralen Wirtschaft fließen. Dazu müssen zuerst Gelder aus dem regulären Haushalt in Infrastruktur-Maßnahmen fließen, bevor das neue, mit dem Begriff der "Zusätzlichkeit" versehene Sondervermögen greift. Außerdem können die Länder ihre Schuldenbremse lockern. Der Sicherheitsbegriff wurde erweitert, etwa um den Zivilschutz und Cyber-Attacken.

Im Grundsatz ist die Zufriedenheit unter den Grünen groß. Ganz ohne Rückblick mochte aber selbst Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann nicht zur Tagesordnung übergehen. Denn, was passiert sei, sei eigentlich "hochgradig bitter". Über Monate habe die Union jetzt Beschlossenes – "das 20-Fache von dem, was Robert Habeck vorgeschlagen hat" – rigoros verweigert. Und wegen dieser Verweigerung sei schlussendlich auch die Ampel "über die Klinge gesprungen".  (jhw)

Andreas Schwarz fasst die in seiner Partei sehr weit verbreitete Stimmung zusammen: Er wünsche sich wie viele zurück in die europäische Friedensordnung der beiden zurückliegenden Jahrzehnte, sagt der Chef der Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, "aber wir können die Zeit nicht zurückdrehen, wir müssen Verantwortung für den Schutz unserer Demokratie, unserer Werte und unserer Freiheit übernehmen". Es stehe viel auf dem Spiel, sagt Schwarz, als der Landtag in der vergangenen Woche über Deutschlands Verteidigungsfähigkeit diskutiert, über Aufrüstung, die Auswirkungen auf Wirtschaft oder Forschung im Südwesten und über die "neue sicherheitspolitische Realität".

Pflugscharen zu Schwertern ist angesagt. Spätestens seit dem "Whatever it takes"-Versprechen des mutmaßlich nächsten Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) käme zumindest verhaltener Unmut im guten alten Fundi-Flügel der Partei oder bei der Grünen Jugend nicht überraschend. Aber das Gegenteil ist der Fall: Selbst Parteilinke feiern die Vereinbarungen mit Union und SPD, etwa die Ravensburger Abgeordnete Agnieszka Brugger, die Militärexpertin der Bundestagsfraktion. Sie hebt hervor, dass "wir jahrzehntelang für einen veränderten Sicherheitsbegriff geworben und gekämpft haben". Jetzt sei er durchgesetzt.

Am vergangenen Dienstag hat der Bundestag nun mit Zweidrittelmehrheit das Finanzpaket beschlossen, das die Grünen mit den künftigen Koalitionären ausgehandelt haben: Unter anderem soll ein 500 Milliarden Euro umfassendes Sondervermögen für Investitionen in die Infrastruktur geschaffen werden, zudem soll die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben gelockert werden. Und in der entscheidenden Bundestagssitzung lobt Brugger die Erweiterungen noch einmal, die den Grünen zu verdanken seien.

Neues Zauberwort: Zusätzlichkeit

Drei Minister:innen aus den Landesregierungen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg hatten sich Anfang vergangener Woche, gleich nach der Vorstellung des schwarz-roten Sondierungspapiers, schriftlich zu Wort gemeldet. Ihre Forderung nach einer Weiterentwicklung des Infrastrukturpakets ist inzwischen zentraler Teil der Einigung mit Union und SPD, der dazugehörige Begriff hat gute Chancen, das Wort des Jahres 2025 werden. Die sperrige Vokabel "Zusätzlichkeit" bedeutet, dass Investitionen aus dem regulären Haushalt nicht in den neuen mit 500 Milliarden Euro Schulden finanzierten Topf verschoben werden dürfen, um im Ursprungsetat selbst neue Spielräume zu eröffnen.

"Mütterrente, Pendlerpauschale, Agrardiesel, Mehrwertsteuersenkung in der Gastronomie haben mit den großen Fragen unserer Zeit nichts zu tun", sagt Baden-Württembergs grüner  Finanzminister Danyal Bayaz und weiß viele Fachleute auf seiner Seite, vom linken Ökonomen Jens Südekum, der die Schuldenkonstruktion miterarbeitet hat, aber zugleich vor den "teuren Geschenken" warnt, bis hin zur Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer. Die erinnert sogar an einen Vorschlag, mit dem Bayaz vor Wochen schon Anfang März hatte aufhorchen lassen: Zur Gegenfinanzierung der milliardenschweren Pakete, zumindest zum Teil, könnte doch ein Feiertag gestrichen werden. Schnitzer bietet als Vorbild Dänemark an, ohne allerdings zu erwähnen, dass diese Maßnahme mächtige Protestaktionen der Gewerkschaften ausgelöst hatte – und einen Teilausgleich in Gestalt einer Lohnerhöhung. 

Viel wird im Infrastrukturpaket jetzt von der Ausgestaltung der Zusätzlichkeit abhängen. Kurzfristig rufen ostdeutsche Länder, auch die Finanzierung von bereits Beschlossenem und fertig Geplantem aus dem neuen Mega-Topf auszunehmen. Eine entsprechende Entscheidung könnte ebenso schnell über die erstaunte deutsche Öffentlichkeit hereinbrechen wie Anfang März die 180-Grad-Wende der Union in Sachen Schuldenbremse und Klimaschutz. Denn die von der Linken mitregierten Länder Bremen und Mecklenburg-Vorpommern bringen im Bundesrat gemeinsam sechs Stimmen auf die Waage jener Zwei-Drittel-Mehrheit, die Union und SPD zur Grundgesetz-Änderung dort ebenfalls unbedingt benötigen.

Ein Thema für den Landtagswahlkampf

Wenn die Abstimmungen in den beiden Kammern erfolgreich durch sind im Sinne der neuen kleinen Großen Koalition aus CDU und SPD, werden sich die Bundes-Grünen in die neue Doppelrolle einfädeln. Einerseits auf den Oppositionsbänken, andererseits als mahnende Stimme, die jetzt mit Union und SPD gefundenen Kompromisse nicht zu verwässern. Und in Baden-Württemberg wird der Umgang mit den Milliardenpaketen den Vorwahlkampf zur Landtagswahl 2026 immer stärker mitbestimmen: Übers Jahr wird zwischen Grünen und Union neu über die Nummer eins zwischen Main und Bodensee entschieden. Die Südwest-CDU will mit ihren klassischen Themen punkten und vorsorglich ein Stück vom aktuellen Erfolgskuchen abbekommen.

"Es ist gut und richtig, dass nun Ausgaben für Verteidigung ergänzt werden um Zivil- und Bevölkerungsschutz, Nachrichtendienste, Cybersicherheit", meldet sich Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) zu Wort, "und das habe ich in den letzten Tagen mit Nachdruck in die Verhandlungen eingebracht." Strobl ist sogar nach Berlin gefahren, um sein Rederecht im Bundestag zu nutzen und "die Stärkung der Blaulicht-Familie" zu rühmen. CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel startet, als Digitalisierungsexperte, in die Koalitionsverhandlungen mit der SPD sogar mit dem Versprechen, die Weichen für die Zukunft zu stellen mit "mehr Tatkraft und weniger Papierkram". Der Wirtschaftsexperte der Unions-Landtagsfraktion Winfried Mack wird da ganz konkret: "Wir müssen selbstverständlich Mittel unseres Landes in Verteidigungstechnologie investieren", sagt er und verlangt von Landeswissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne), sie solle jene Zivilklauseln abschaffen, die an den Hochschulen im Südwesten Rüstungsforschung untersagen. Pflugscharen zu Schwertern eben.

Noch ein Zauberwort: Windfall-Profit

Die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) wiederum bietet ebenfalls einen Vorgeschmack auf die kommenden Monate und im Stile einer PR-Beraterin schon mal das "Produktportfolio" hiesiger Produzenten an: "Lenkflugkörper und Radartechnik, Munition, Fahrzeuge, Flugzeugsysteme, Beobachtungssatelliten, Satellitenkommunikationssysteme, Softwarelösungen." Alles Bereiche, "in denen wir in Baden-Württemberg eine führende Stellung einnehmen". Selbst Grünen-Fraktionschef Schwarz hat klare Vorstellungen von einer "abschreckungsfähigen Bundeswehr" und ihren "Verteidigungsanstrengungen". Die kämen "unserem Hochtechnologiestandort" auf langer Strecke und sogar sofort zugute, weil Fachkräfte aus den Branchen mit schwächelnder Auftragslage, wie beispielsweise der Automobilindustrie, von der Aufstockung der Arbeitsplätze in der Verteidigungswirtschaft profitieren könnten. Vom sogenannten Windfall-Profit für den Alltag ganz abgesehen: "Das Internet, die Mikrowelle, Armbanduhren, das waren alles mal ursprünglich militärische Erfindungen."

Selbst diese Töne können Hoffmeister-Kraut von einem Seitenhieb auf den Koalitionspartner und auf verbliebene Pazifist:innen nicht abhalten. Frieden schaffen ohne Waffen, das sei eben ein frommer Wunsch gewesen, "man kann sagen: Das war politische Traumtänzerei". Dabei hat sie selbst auch kein kleines Paket zu tragen angesichts der Versprechungen aus der eigenen Partei im Bundestagswahlkampf, jener von Hagel und vor allem von Friedrich Merz persönlich. Im Sondierungspapier mit den Sozialdemokrat:innen findet sich davon wenig bis nichts wieder – keine Rentenreform, kein Verzicht auf Mindestlohn, Tariftreue oder eine Einschränkung von Gewerkschaftsrechten. 

Deutlich mehr Erklärungsbedarf in ihren Kreisen haben viele Schwarze ohnehin, ist doch einer der größten Wünsche im heimischen Mittelstand zu Grabe getragen: Es wird nicht nur keine Streckung deutscher Klimaziele geben, sondern stattdessen sogar erstmals eine Festschreibung in der Verfassung. Die Unterschiede zwischen den Merzschen Auffassungen vor und nach dem 23. Februar ist inzwischen vielbeschrieben, die Fallhöhe in den Aussagen zahlreicher Unionspolitiker:innen hierzulande ist ebenfalls erheblich.

Nochmals Hoffmeister-Kraut: "Der einseitige Vorrang der Klimaschutzpolitik mit zu wenig Rücksicht auf die Wirtschaft, das war nicht der richtige Weg", gab die Ministerin Ende November 2024 zu Protokoll, ohne starke Wirtschaft könne es keinen starken Klimaschutz geben. Jetzt wird nicht nur sie landauf landab erklären müssen, wieso erstens die Schuldenbremse Geschichte und wieso zweitens das Sondervermögen für Infrastruktur mit einem Mal das Mittel der Wahl ist. Und warum es drittens auf einmal richtig sein soll, sogar "Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität 2045" in der Verfassung festzuschreiben und 100 Milliarden Euro in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) zu stecken – auch diese Punkte haben die Grünen in das nun beschlossene Finanzpaket hineinverhandelt.

Eilantrag der FDP könnte für Turbulenzen sorgen

Dass Friedrich Merz' Husarenritt noch nicht erfolgreich zu einem Ende gekommen ist mit der klaren Zustimmung am Dienstag im Bundestag und dem bayerischen Versprechen, im Bundesrat mit für die Zwei-Drittel-Mehrheit zu sorgen, liegt an der FDP. Die ist zwar für Aufrüstung, gerade in Baden-Württemberg und zum Wohle der heimischen Wirtschaft. Sie kann an den politischen Mehrheiten und dem Ja zu den Infrastruktur-Milliarden nichts ändern. Sie möchte aber die Landesverfassungen hüten mit einem keineswegs völlig von der Hand zu weisenden Argument: Grüne und SPD haben sich, neben allem anderen, auf die Änderung der 16 Landesverfassungen geeinigt und auf die Möglichkeit, Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des BIP aufzunehmen.

Baden-Württemberg wird dies nach den Worten von Ministerpräsident Winfried Kretschmann vorerst gar nicht nutzen, was die Liberalen allerdings nicht davon abhält, die Öffnung insgesamt zu problematisieren. Weil Schulden bekanntlich keinen Platz haben im Werte-Kompass der FDP und weil – zumindest eine spannende rechtliche und demokratietheoretische Frage – die Verfassungen der Länder geändert würden, ohne Befassung der zuständigen Landtage. Deswegen haben mehrere FDP-Abgeordnete einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht gegen die Abstimmung gestellt. Hätte der Erfolg, könnte noch eine Partei einen großen Erfolg verbuchen – einen jedoch, der die Republik in neue ungeahnte Turbulenzen stürzte.

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3 Kommentare verfügbar

  • Claude Nuage
    am 21.03.2025
    Antworten
    Die Grünen haben gut verhandelt, man sieht es am Schaum vorm Mund beim Gegner. Ein Scheitern des Kompromisses wäre nicht honoriert worden. Die FDP ist für soetwas aus dem Bundestag geflogen.

    N.B. : Pflugschare zu Schwertern. Reicht es beim Chef vom Dienst nicht einmal mehr für die Überschriften?
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