"Das ist eine Katastrophe für Hechingen", sagt Beate Dillmann, Inhaberin von Optik Bidlingmaier auf dem Hechinger Marktplatz. Das Zentrum der 20.000-Einwohner-Stadt sei ohnehin fast ausgestorben, da brauche es keinen weiteren Publikumsschreck. Auch für Silvia Bakos käme es überhaupt nicht infrage, bei Simon eine Reise zu buchen. Sie betreibt das Frauenfitnessstudio Mrs. Sporty, drei Gehminuten vom Reisebüro entfernt und direkt an der üblichen Spaziergangsroute der wöchentlichen Montagsdemonstrationen gelegen. Diese sind aus den Corona-Demonstrationen hervorgegangen und werden jede Woche von der AfD, oft von Simon selbst, bei der Stadt angemeldet.
Simon ist immer mit dabei, genauso wie der zweite AfD-Stadtrat Kai Rosenstock. Jüngst hätten die montäglichen "Spaziergänge", wie die AfD sie nennt, an Zuwachs gewonnen. Mehr als 50 Menschen sollen am vorvergangenen Montag mitgelaufen sein. Bakos beschreibt die Demos als laut, oft diskriminierend. "Was macht denn ihr da oben?", würden Teilnehmende immer wieder hämisch zu den trainierenden Frauen in ihr Fitnessstudio hoch rufen. Sie selbst ignoriere Simon – so gut das eben geht. Schwierig sei das, wenn sie mit ihren Kundinnen im Freien trainiert und am Reisebüro vorbeikommt. Dann rufe ihnen der Stadtrat nach: "So, habt ihr geschwitzt?" oder "So, waren wir wieder im Fürstengarten?" Ob sie die Art und Weise, wie gegen Simon vorgegangen wurde, richtig findet, weiß sie nicht so recht – dass gleich die Polizei aufkreuzt, findet sie "ein bisschen krass".
In ihrer Anfrage im Gemeinderat verwies die Bunte Liste nicht nur auf besagten Infostand, sondern auch auf Flyer im Reisebüroschaufenster, die sich insbesondere gegen Grüne Politiker:innen richteten. "Welche rechtliche Handhabe hat die Stadt, öffentliche Diffamierung und Diskriminierung wie die genannten Schaufensterplakate zu unterbinden?", wollte Stadträtin Almut Petersen wissen. Gar keine, antwortete die Stadt mit Verweis auf das Hausrecht und die Meinungsfreiheit. Sollte es sich allerdings "tatsächlich um persönliche Beleidigungen oder Diffamierung konkreter Personen(gruppen), Parteien oder sonstigen juristischen Personen handeln, befinden wir uns ggfs. im Bereich von Straftatbeständen, für die eine Strafanzeige von den betroffenen Personen oder Gruppierungen über die Polizei gestellt werden müsste".
Und siehe da: Eine Woche später kam es zur besagten Anzeige und zu einer polizeilichen Durchsuchung in Simons Büro. Nun wird geprüft, ob eines der ausgestellten Flugblätter gegen Paragraf 188 verstößt: Beleidigung gegen Personen des politischen Lebens. Was genau darauf zu sehen ist, dürfe er nicht sagen, erklärt Simon. Nur so viel: Auf der Rückseite stand: "Lüge nicht, betrüge nicht, der Staat duldet keine Konkurrenz." Vorne waren laut Staatsanwaltschaft Hechingen mehrere Politiker:innen der Bundesregierung scheinbar unter psychischen Krankheiten leidend abgebildet. Ein Stapel aus etwa 50 solchen Flyen wurde beschlagnahmt.
Die Plakate sind weg, die Menschenfeindlichkeit bleibt
Freitagmittag im August. Die Sonne brennt erbarmungslos auf den Hechinger Marktplatz, der mit all seinen leerstehenden Läden und keiner Menschenseele auf der Straße fast gespenstisch wirkt. Genauso leise wie die Hechinger Innenstadt zur Mittagszeit fielen die Reaktionen auf Simons Aktionen aus. Das Plakat mit dem Hausverbot für Grünenwähler habe er "selbst gebastelt", erzählt der Rentner mit kindlichem Stolz, während er im Chaos seines Hinterzimmers nach dem Kunstwerk wühlt. Da fällt ihm plötzlich ein: "Ach, das hab ich ja der 'Spiegel'-Reporterin mitgegeben." Das Nachrichtenmagazin hatte am 10. August über den Aufstieg der AfD in Ländern und Kommunen berichtet und dabei Hechingen einen Besuch abgestattet. Auf Simons Tisch liegt eine Ausgabe des rechtsextremen "Compact"-Magazins, darauf zu sehen ist Wirtschaftsminister Robert Habeck hinter Gittern. Bis vor Kurzem war das Heft noch im Schaufenster ausgestellt. Flyer gegen "Gender & Co." oder Habecks Einwanderungspolitik, Infobroschüren zur "grünen Gefahr" oder Impfschäden bei Kindern hat Simon zur Genüge und teilt sie bereitwillig aus. Die Menschen in Hechingen, die sich trauten, etwas dagegen zu sagen, richteten sich schriftlich an die TUI. Und das waren anscheinend nicht ganz wenige, schließlich schrieb der Touristikkonzern eine Abmahnung. Weitere rechtliche und vertragliche Schritte seien bereits eingeleitet und die TUI wolle die Geschäftsbeziehung beenden, heißt es auf Anfrage von Kontext. Vermutlich werden die TUI-Logos beim Reisebüro Simon bald verschwinden.
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Erich Weichsel
am 27.08.2023