Naturschutzverbände können also zufrieden sein. "Bevor so was Schule macht", sagt Enssle, "wollten wir klären, wer das Gesetz falsch versteht: wir oder das Landratsamt." Auf den traditionellen Naturschutztagen zum Jahresbeginn in Radolfzell am Bodensee wird das weitere Vorgehen diskutiert. Seinen Vorgänger Andre Baumann hat Enssle prinzipiell auf seiner Seite. Der grüne Umweltstaatssekretär sieht sich ebenfalls in seiner Rechtsauffassung bestätigt, denn Streuobstbestände seien "eine einzigartige Kostbarkeit mit hohem Wert für unsere Kulturlandschaft, ein unschätzbarer Lebensraum für bis zu 6.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten, und sie gehören zu den artenreichsten Biotopen in Mitteleuropa."
Der Schutz für Streuobstwiesen wirkt nicht
Ohnehin sind die Bestände arg geschrumpft in Baden-Württemberg, seit Anfang der 1980er-Jahre die damalige CDU-Regierung die bis dahin tatsächlich üblichen Rodungsprämien strich und die Weichen auf Erhalt stellen wollte. Gelungen ist das nicht. Laut der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg gab es 2020 rund sieben Millionen Streuobstbäume zwischen Main und Bodensee, drei Jahrzehnte früher waren es noch gut elf Millionen. Noch immer handelt es sich aber um die europaweit größten zusammenhängenden Flächen. Im Zuge der Kompromisse, die von der Landesregierung mit ausverhandelt wurden, um das Volksbegehren "Rettet die Bienen" zu verhindern und ihm zugleich zu entsprechen, wurden sie unter eben jenen ganz besonders strengen Schutz gestellt.
Trotzdem und gerade deshalb lässt die Landesregierung in einer ersten Reaktion zumindest auch aufhorchen. Denn Baumann kündigt an, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gründlich geprüft wird, um zu sehen, ob es einen Änderungsbedarf bei der bestehenden Vorschrift geben muss. Und dann fällt noch ein bemerkenswerter Satz: "Schlussendlich entscheidet der Landtag über Gesetzesänderungen." Beim strengen Schutz könnte es bleiben – aber die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchsverfahrens könnte verkürzt und damit verwässert werden. "Im Umweltministerium wissen wir unsere Anliegen in guten Händen", heißt es unter Naturschützer:innen – für das Staatsministerium gelte diese Zuversicht aber nicht mehr.
Eine Befürchtung liegt nahe: Bürger- und Oberbürgermeister:innen winken wie in Bretten damit, dass "die Firmen davonmarschieren", und schon könnten Grüne ins Grübeln kommen, ob tatsächlich der Obstbaum ihr bester Freund ist. Sieben grüne Abgeordnete wollen daran überhaupt keinen Zweifel aufkommen lassen, haben einen Offenen Brief an Brettens Oberbürgermeister Martin Wolff (parteilos) und den Landrat Christoph Schnaudigel (CDU) geschrieben. Dabei bringen sie sogar eine Verschärfung der Vorschriften ins Spiel: "Im Juli 2020 haben wir als Abgeordnete des Landtags von Baden-Württemberg nicht unsere Hände für ein Gesetz gehoben, das seine Wirkung verfehlt, weil es von den Landratsämtern und Gemeinden allzu leichtfertig 'weggewogen' wird. Ihr Vorgehen ist für uns daher ein konkreter Anlass, um zu prüfen, ob und wie eine unmissverständliche Formulierung (…) erforderlich ist."
Der Fortgang der Dinge wird Maßstab in mehrfacher Hinsicht sein. Vor allem wenn die Bäume im Frühjahr blühen, ist deutlich zu erkennen, wie nahe sie teils neben Siedlungs- und/oder Gewerbegebieten stehen – und wie unausweichlich deshalb die Auseinandersetzungen über den Umgang mit ihnen sind. Bisher durfte man die Grünen dabei im konservativen, also auf Erhaltung pochenden Lager vermuten. Kein "Fähnchen im Wind" zu sein, hatte der Ministerpräsident zum 40. Geburtstag seiner Partei ebendieser als Grundzug zugeschrieben: "Das ist unser Rezept, die Menschen im Land schätzen das, deshalb schenken sie uns ihr Vertrauen, und deshalb sind wir heute die Baden-Württemberg-Partei."
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Gerd Ribbink
am 04.01.2023