KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Rette sich, wer kann

Rette sich, wer kann
|

Datum:

Auf krude Art erfrischend ehrlich offenbart der "Spiegel"-Autor Jonas Schaible, was passiert, wenn Klima-Angst in Klima-Hysterie umschlägt. Da ist nichts mehr, was ihm Hoffnung macht, bekannte er kürzlich in einem Essay, listete dort unabwendbare Folgen der Erderhitzung auf – und breitete dann in Anlehnung an den "Futuristen" und "Klimakrisentheoretiker" Alex Steffen aus, dass die "halbwegs klimarobusten" Flecken zum "Flaschenhals" würden. Man könne also sagen: "Rette sich, wer kann. Aber nicht jeder kann." Und Steffen sekundiert: Ohne Triage werde es nicht gehen. Dann gebe es Orte wie Manhattan, "in denen sich Geld, Macht und Kultur konzentrieren, die werden um fast jeden Preis verteidigt."

Nun enthält das Komponenten einer zutreffenden Gegenwartsbeschreibung: Immerhin gibt es ja schon heute Millionen von Klimaflüchtlingen, die ziemlich konsequent ausgegrenzt werden. Und dennoch markiert es eine erschreckende Diskursverschiebung, wenn ein Leitmedium die soziale Selektion zur unabwendbaren Notwendigkeit erklärt, auf die es sich nun, ganz pragmatisch, vorzubereiten gelte. In etwa so, als wäre das Boot bald voll.

Dann aber tut sich Überraschendes: Auf dem Cover der ersten "Spiegel"-Ausgabe dieses Jahres ist ein volltätowierter Karl Marx zu sehen, der ein Windrad-Kettchen um den Hals trägt, verbunden mit der Frage, ob er nicht vielleicht doch recht hatte? Und das wird in der zugehörigen Titelgeschichte keineswegs so eindeutig verneint, wie zu erwarten war. Zwar wird die Marx'sche Theorie selbst nicht viel tiefer reflektiert als dass der Urheber halt was gegen den Kapitalismus hatte. Aber neben Börsenmilliardären, die sich Reformprogramme wünschen, und Ökonominnen, die Umverteilung einfordern, kommen auch Stimmen wie die der eigentumskritischen Philosophin Eva von Redecker zu Wort. Und Minouche Shafik, ehemalige Vizepräsidentin der Weltbank, meint, dass das ganze Modell des Kapitalismus weiterentwickelt werden müsse, "wahrscheinlich sogar radikal" – was das Autor:innen-Trio der "Spiegel"-Titelgeschichte zu dem bemerkenswerten Schlusssatz veranlasst: "Es klingt inzwischen mehr nach Verheißung als nach einer Drohung."

Die ökonomische und ökologische Krisenentfaltung scheint das Denken beweglich zu machen. Doch noch gibt es einen, der gegen den Strom schwimmt. Mit Blick auf die Klima- und Umweltziele "habe ich so fröhlich noch nie regiert", verrät Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der sich von der allgemeinen Katastrophenstimmung nicht anstecken lässt – unter anderem weil bei der CDU jetzt endlich die Bremsklötze gelöst seien. "Diese radikale Dystopie", verrät er im Interview mit der taz, nervt ihn nur noch. Im Gegensatz zum Schulschwänzen und den anmaßenden Aktionen der Letzten Generation lobt er sich die Start-up-Szene, in der stattdessen "produktive Energie" vorherrsche.

Produktive Energie ist in Baden-Württemberg auch im Baugewerbe zu beobachten – wenn auch weniger bei den Windkraft-Anlagen, von denen zum 30. September 2022 eine weniger in Betrieb war als im Vorjahr. Doch dafür floriert im Südwesten das Angebot an Einfamilienhäusern, das einhergehend mit Flächenversiegelung expandiert, während mit illegalen Baumfällaktionen auf Streuobstwiesen das Entstehen neuer Gewerbegebiete zementiert wird. Aber wenigstens ging beim Bau der Filstalbrücke – drei Mal teurer als geplant! – alles mit rechten Dingen zu. Oder auch nicht: Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt gegen beteiligte Unternehmen, es geht um den Verdacht zu hoher Abrechnungen und manipulierter Bautagebücher, die ihren Anteil an der Kostenexplosion haben könnten.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Rolf Alterauge
    am 08.01.2023
    Antworten
    Die Folgen des Klimawandels werden wahrscheinlich expotentiell verlaufen. Und da kann es dann sehr schnell zu Forderungen kommen, das Militär dagegen einzusetzen. Gegen Flüchtlinge zum Beispiel, die ja dann nicht politisch Verfolgte, sondern "nur" Opfer von Naturereignissen sind. Das teilweise…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!