"Die direkte Demokratie ist blind gegenüber Inhalten", sagt der Berner Partizipationsforscher Marc Bühlmann, und alle Systemverächter des Parlamentarismus sollten sich bei dieser Erkenntnis die Augen reiben. Tun sie aber nicht. Gisela Erler, grüne Staatsrätin für Zivilgesellschaft in Baden-Württemberg, hat zum Workshop in die deutsche Botschaft in Bern geladen. Die Sitzordnung wirkt ähnlich aus der Zeit gefallen wie die Annahme, PopulistInnen könnten überzeugt werden von einem vernünftigen, abwägenden Umgang mit Fragen der Bürgerbeteiligung: In einem Stuhlkreis unterhalten sich ExpertInnen, darunter zahlreiche renommierte PolitikprofesssorInnen, über Mitbestimmung am Beispiel der Schweiz, und darüber, wie sich "Verfahren der direkten Demokratie und der Bürgerbeteiligung miteinander verzahnen lassen".
Thema sind zufällig zusammengesetzte Gremien, die – wie gerade in der brisanten Frage der Altersversorgung heimischer Landtagsabgeordneter – nach intensiver Einarbeitung Positionen entwickeln. Oder die Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, wo BürgerInnen Empfehlungen aussprechen, die die Bevölkerung deutlich ernster nimmt als Vorschläge aus der etablierten Politik. Und Bühlmann nutzt die Gelegenheit, daran zu erinnern, wie sich schon Platon oder Aristoteles den Kopf über "die Urfrage" zerbrochen hätten, ob Sachverständige – "Heute von der Fünf-Sterne-Bewegung, von Le Pen oder Wilders verunglimpft als politische Eliten" – oder alle Bürger entscheiden sollen.
Für den Kehler AfD-Abgeordnete Stefan Räpple ist die Frage längst beantwortet. Er ist – als einziger Parlamentarier, weil andere nicht mit konnten – Teil der Erler'schen Delegation und glänzt mit luziden Erkenntnissen. Etwa der, dass nun mal jeder seine "eigene Landkarte von der Welt" habe. Worauf solche Relativierungen abzielen, liegt auf der Hand: So werden, ganz im AfD-Interesse, Freiräume für Landkarten aller Art geschaffen, auch für die, auf denen Afrika ans Allgäu grenzt.
Der 36-Jährige, der munter davon erzählt, in der Schweiz bereits als Chocolatier gearbeitet zu haben, berichtet jedenfalls, dass seine Fraktion neulich einen Antrag in den Landtag eingebracht habe, um die Quoren für Volksabstimmungen zu senken. Tatsächlich war das kein Antrag, sondern ein Gesetzentwurf, aber solche Feinheiten bleiben Räpple auch nach 55 Plenarsitzungen immer noch fremd. Dafür weiß er ganz genau, wie Politiker mit Volksentscheiden umzugehen haben: "Nicht bewerten, sondern umsetzen." Falsch, sagen die GastgeberInnen, die immerhin seit 1874 auf Erfahrungen zurückgreifen können, seit der Einführung des sogenannten fakultativen Referendums. Und Erler selber nennt den Glauben, mit Plebisziten werde vom Volk "einfach durchregiert", ein "ganz großes Missverständnis", dem auch die Briten mit dem "Brexit" aufgesessen seien.
Komplizierter als gedacht
"Die direkte Demokratie", sagt die Staatsrätin, "braucht, um zu funktionieren, die repräsentative Demokratie." Gerade Stuttgart-21-Gegner können davon ein Lied singen. So wollten die Grünen 2011 in den Koalitionsvertrag mit der SPD hineinverhandeln, dass der für den Herbst desselben Jahres geplante Volksentscheid danach noch einmal vom Parlament behandelt werden müsse. Die roten Projekt-Fans blieben stur, weil sie befürchteten, das Ergebnis des Plebiszits werde im Landtag verwässert und zerredet und das ganze Milliardenprojekt noch einmal grundsätzlich problematisiert.
Auf diese Weise wird dieses Referendum bis heute, selbst und gerade von Winfried Kretschmann, in einer Art und Weise überhöht, die die Schweiz gar nicht kennt. "Die Vorstellung, dass das Volk grundsätzlich recht hat, ist problematisch und falsch", warnt einer der Experten. Die Bürgerschaft sei lediglich "ein Teil der Gewaltenteilung" und habe deshalb eben "kein totales Durchsetzungsrecht". Wer dies nicht sehe, "der hat unser ganzes System nicht verstanden". Allerdings hat die Medaille eine Kehrseite. Über allen vom Parlament verabschiedeten Erlassen schwebe "das permanente Damoklesschwert der Abstimmung", erläutert Barbara Perriard, die die zuständige Stabsstelle der Schweizer Bundesregierung leitet. Voraussetzung dafür ist, dass sich binnen hundert Tagen mindestens 50 000 stimmberechtigte BürgerInnen oder mindestens acht der 26 Kantone dafür aussprechen.
11 Kommentare verfügbar
Schwa be
am 04.03.2018Mit Verlaub, was für eine repräsentative Demokratie meinen Sie Frau Erler?
Die westlicher, womöglich deutscher Prägung? Falls Ja - und davon gehe ich aus - reden Sie von eine…