KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Dengler und der NSU-Skandal

Dengler und der NSU-Skandal
|

Datum:

Sie sind immer noch auf der Suche nach der Wahrheit im NSU-Komplex, der Krimiautor Wolfgang Schorlau und sein Mit-Rechercheur Ekkehard Sieker. Ihre neuesten Ermittlungsergebnisse stehen in der Taschenausgabe der Schützenden Hand, die am Donnerstag in die Buchhandlungen kommt. Wir veröffentlichen vorab einen Teil des Nachworts.

Auf den ersten Seiten dieses Buches ["Die schützende Hand", d. Red.] findet sich seit der ersten Auflage das Zitat eines Versprechens von Angela Merkel: "Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck."

Die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland hat dieses Versprechen am 23. Februar 2012 auf der Gedenkfeier für die Opfer des NSU abgegeben. Doch inwieweit konnten die zuständigen Behörden dieses Landes dieses Versprechen inzwischen erfüllen?

Ein öffentliches Versprechen wurde gebrochen

Am 4. November 2016, dem fünften Jahrestag der Ereignisse von Stregda und Zwickau, gibt der Chefkommentator der "DuMont-Redaktionsgemeinschaft", Christian Bommarius, in der "Berliner Zeitung" die Antwort: "Weder sind bis heute die Morde aufgeklärt, noch sind die Hintermänner und die Helfershelfer ermittelt. Das ist erbärmlich. Aber dass bis heute das Interesse der Behörden, das zu ändern, sehr verhalten ist – das ist bedrohlich."

"Fünf Jahre NSU – Aufklärung unerwünscht?", so lautete das Motto einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die einen Tag zuvor in Erfurt stattfand. Es diskutierten dort die Vorsitzende des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses, ein Opferanwalt des Münchner NSU-Prozesses und ein Politikwissenschaftler. Doch gleich zu Beginn der Diskussion appellierte der Moderator der Runde bezüglich der Frage "Aufklärung unerwünscht?" unwidersprochen in Richtung der Veranstalter: "Das Fragezeichen ist überflüssig, da sollten Sie lieber ein Ausrufezeichen draus machen."

Nach fünf Jahren NSU-Ermittlungen: Nur weniges ist sicher

Die Ermittlungen zur rechtsextremen Vereinigung NSU haben bis heute nur wenige belastbare Ergebnisse zutage gefördert. Grundsätzlich kann man von folgenden Tatsachen ausgehen:

  • Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurden am 4. November 2011 gegen Mittag in einem in Brand gesetzten Wohnmobil in Eisenach-Stregda tot aufgefunden.
  • Eine Wohnung in Zwickau, in der sich das NSU-Trio eine Zeit lang aufgehalten hatte, wurde am 4. November 2011 nachmittags durch einen Brandanschlag zerstört. Beate Zschäpe stellte sich vier Tage später, am 8. November 2011, in Jena der Polizei. In den Jahren von 2000 bis 2006 wurden neun Menschen türkischer bzw. griechischer Abstammung in sechs deutschen Städten zwischen Rostock und München brutal ermordet.
  • Am 19. Januar 2001 wurde bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse die junge Tochter des deutsch-iranischen Ladeninhabers schwer verletzt.
  • Am 9. Juni 2004 wurde im Kölner Stadtteil Mülheim in der Keupstraße, einem bekannten Zentrum türkisch-kurdischen Geschäftslebens, eine Nagelbombe ferngezündet. Bei diesem Attentat wurden 22 Menschen verletzt, vier davon schwer.
  • Am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn durch Kopfschüsse getötet und ihr Kollege lebensgefährlich verletzt.
  • Fünfzehn Raubüberfälle wurden zwischen dem 18. Dezember 1998 und dem 4. November 2011 verübt, davon acht in Chemnitz, drei in Zwickau, zwei in Stralsund, sowie je einer in Arnstadt und Eisenach.

Aufklärungsrate: null

Von den zehn Morden, den zwei Attentaten und den mindestens 15 Raubüberfällen konnte keine einzige Tat wirklich aufgeklärt werden. Alle diese Verbrechen wurden zwar nach dem 4. November 2011 von den Ermittlungsbehörden schrittweise dem NSU-Trio zugeordnet; aber bei dieser lediglich auf Mutmaßungen beruhenden Zuweisung blieb es bis heute.

"Alle diese Taten, da sind sich die Ermittler sicher, haben Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangen", schreibt der Journalist Andreas Förster am 14. Oktober 2016 in der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau. Der Journalist wundert sich aber, woher die Ermittler ihre Sicherheit nehmen, "wenn von ihnen [den mutmaßlichen Tätern Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, der Verf.] keine biologischen oder daktyloskopischen Spuren an den Tatorten und Tatwaffen gesichert wurden. (...) In keinem vergleichbaren Verbrechensfall der Vergangenheit zeichnet die kriminaltechnische Spurenlage solch ein widersprüchliches Bild wie beim NSU. Da gibt es zum einen an keinem der Tatorte und Mordwaffen Fingerabdrücke oder DNA-Material der mutmaßlichen Täter Mundlos und Böhnhardt. Andererseits konnten die Techniker allein an den Asservaten, die im Brandschutt der Zwickauer Frühlingsstraße und im ausgebrannten Wohnmobil von Eisenach-Stregda geborgen wurden, 43 offene DNA-Spuren isolieren – darunter an Waffenteilen, Schriftstücken und Datenträgern. Offen heißt in dem Fall, dass sie bis heute keiner Person zugeordnet werden können."

Auch unsere Recherchen zu dem vorliegenden Roman haben ergeben, dass die Ermittlungsbehörden für keinen einzigen der 27 dem Trio zugeschriebenen Tatorte über eindeutige Beweise dafür verfügen, dass überhaupt eine der drei Personen des NSU-Trios dort anwesend war. Berücksichtigt man die personelle Kompetenz und die technischen Möglichkeiten, über die die Ermittlungsbehörden in diesem Land verfügen, drängt sich die Frage förmlich auf: warum dieser Mangel an Aufklärung?

Der Verfassungsschutz und seine Geschichte

Wenn das NSU-Trio tatsächlich für die genannten schweren Straftaten verantwortlich ist: Wie konnte es geschehen, dass Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – nach ihrem Abtauchen im Januar 1998 bis zu ihrer sogenannten "Selbstenttarnung" am 4. November 2011 – fast 14 Jahre lang unerkannt in Deutschland morden, rauben und Anschläge begehen konnten, ohne dass die für die Aufklärung zuständigen Ermittlungsbehörden irgendetwas in jenen Jahren über diese drei Täter des NSU in Erfahrung gebracht haben? 

Die bis heute offiziell vertretene Antwort wurde innerhalb des Bundesamtes für Verfassungsschutz entwickelt. Bereits gut drei Wochen nach den Ereignissen von Stregda und Zwickau wurde sie am 30. November 2011 von dem Politikwissenschaftler Prof. Armin Pfahl-Traughber unter dem Titel "Der Rechtsterrorismus im Verborgenen" erfolgreich verbreitet. Schon am 19. Dezember 2011 druckte die sich im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums befindende Bundeszentrale für politische Bildung die Antwort des Politologen nach.

Das überraschende Fehlen jedweden Ermittlungswissens zum NSU bei den Sicherheitsbehörden – vor allem bei der Polizei und den Verfassungsschutzämtern – begründete der Wissenschaftler so: "Da man (...) den Rechtsterrorismus nicht öffentlich wahrnehmen konnte, konnte man ihn auch nicht aufklären. (...) Gelang den drei Aktivisten eine Abschottung auch von großen Teilen der neonazistischen Szene, so erklärt sich so auch ihr jahrelanges verdecktes Wirken."

Bei beiden Veröffentlichungen wurde allerdings nicht darauf hingewiesen, dass der Autor, Prof. Pfahl-Traughber, seit 2004 in Brühl an der Hochschule des Bundes im Fachbereich Nachrichtendienste unterrichtet; zuvor – von 1994 bis 2004 – war er in Köln wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, Abteilung 2: Rechtsextremismus.

Im Jahr 2012 finden sich dieselben Argumente dann auch in der "Festschrift zum 60. Jubiläum des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg". Dort wird die Frage, warum es den deutschen Inlandsgeheimdiensten bis 2011 derart an Informationen zum NSU mangelte, so beantwortet: "Nach 2001 sind bei den Verfassungsschutzbehörden keine Erkenntnisse mehr angefallen, die auf Verbleib oder Aktivitäten der drei Flüchtigen hindeuteten. (...) Diese Kappung der Verbindung in die rechtsextremistische Szene dürfte einer der wesentlichen Gründe dafür gewesen sein, dass die Verfassungsschutzbehörden keinen Zugang zu Informationen über die Flüchtigen mehr hatten."

Verfasst wurde diese Arbeit von einem Christian Menhorn, der im Autorenverzeichnis der Festschrift als "Freier Autor zu Themen über jugendliche Subkulturen und Rechtsextremismus" vorgestellt wurde. Doch im Oktober und November 2014 stellte sich im Rahmen des Münchner NSU-Prozesses heraus, dass Christian Menhorn seit Jahren beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln im Bereich Rechtsextremismus beschäftigt ist. Er ist dort als zuständiger Sachbearbeiter tief in die Operationen des Bundesamtes in der rechtsradikalen Szene verstrickt.

Diese beiden inoffiziellen "Chefideologen" des Bundesamtes gehen einer Tätigkeit im Umfeld oder unmittelbar im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz nach, als sie diese – für die Sicherheitsorgane argumentativ entlastende, bis heute offiziell vertretene – These von der isolierten und daher unauffindbaren NSU-Truppe wirksam in die Welt setzen. Doch diese These ist, wie sich zeigen wird, unhaltbar.

Der Verfassungsschutz: die schützende Hand

Am Vormittag des 5. November 2011 – ein Tag nach dem Auffinden des Wohnmobils mit den beiden Toten in Stregda – wurde eine Lagebesprechung in den Räumlichkeiten der zuständigen Polizeidirektion Gotha abgehalten. Weil im Camper die Waffe der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter aufgefunden worden war, waren auch Ermittler aus Baden-Württemberg zum Treffen nach Thüringen angereist.

An dieser Lagebesprechung nahm ebenfalls der Zielfahnder Sven Wunderlich vom Thüringer Landeskriminalamt teil. Er war – von 1998 bis 2001 – offiziell mit der Suche nach Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe befasst. In Gotha erfuhren die Stuttgarter Kriminalbeamten zu ihrer großen Überraschung über Wunderlichs Fahndung etwas, womit sie nicht gerechnet hatten – und das kam vor dem Erfurter NSU-Untersuchungsausschuss im Sommer 2016 ans Licht.

Eine Stuttgarter LKA-Beamtin gab das, was Sven Wunderlich in Gotha über das NSU-Trio gesagt hatte, folgendermaßen wieder: "... an denen war ich ja dran als Zielfahnder und kurz bevor ich quasi zugreifen konnte, bin ich damals abgezogen worden, weil die abgedeckt worden sind." Der damals in Gotha ebenfalls anwesende Kollege der LKA-Beamtin bestätigte gegenüber den Erfurter Ausschussmitgliedern Wunderlichs freimütige Aussagen: "Also er hat gesagt – und das kann ich so wiedergeben –, dass seiner Ansicht nach das Trio unter dem Schutz vom Verfassungsschutz steht."

Bereits im März 2013 wies Sven Wunderlich bei seiner Vernehmung die Mitglieder des NSU-Ausschusses des Deutschen Bundestages auf den Sachverhalt hin, "dass das LfV [Landesamt für Verfassungsschutz, der Verf.] Thüringen uns [die Fahnder, der Verf.] gebeten hat, im rechtsradikalen Milieu nicht Unruhe zu machen. Sie hätten das wohl im Griff."

Ein solches "im Griff-Haben" kann aber den Nachrichtendiensten im Wesentlichen nur mittels eines systematisch aufgebauten Netzwerks von V-Leuten gelingen. Das antifaschistische Magazin "der rechte rand" konnte inzwischen dokumentieren, dass durch Auswertungen von Berichten der NSU-Untersuchungsausschüsse, durch journalistische Recherchen und mithilfe von geleakten Behörden-Akten nachgewiesen werden kann, dass etwa 20 solcher dienstlichen Spitzel sich im direkten Umfeld des NSU-Trios befanden und gut 30 V-Leute rund um den "Thüringer Heimatschutz" (THS), aus dem die Terrorgruppe direkt entstand, platziert wurden.

So existiert auch ein heimlich auf einem Tonband mitgeschnittenes Gespräch zwischen dem militanten Neonazi und NPD-Mann Thorsten Heise und dem Spitzel Tino Brandt. Heise fasst an einer Stelle des Bandes einen Teil des mit Brandt – ehemaliger V-Mann des Thüringischen Verfassungsschutzes und frühere Schlüsselfigur des THS – geführten Gesprächs so zusammen: "Schön zu wissen, dass der Verfassungsschutz die nationale Bewegung in Thüringen aufgebaut hat. Das ist schon (...) sehr cool." Das BKA geht davon aus, dass dieses Gespräch am 20. Januar 2007 stattgefunden hat.

Sicherheitsbehörden isolieren den NSU aus den Akten

Am 13. Mai 2013 vernahm der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages einen Mitarbeiter des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, der in Berlin unter dem Decknamen "Sebastian Egerton" aussagte. Das Ausschussmitglied Clemens Binninger von der CDU/CSU-Fraktion legte dem Geheimdienstmann einen Bericht der Projektgruppe vom BKA mit dem Titel "Rechtsextremistische Kameradschaften" vor. Es war ein Zwischenbericht vom Januar 2002, der am Ende in einen Abschlussbericht der gemeinsamen Projektgruppe "Kameradschaften" des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des BKA münden sollte. Der Kölner Verfassungsschützer "Sebastian Egerton" war an diesem Projekt beteiligt.

Clemens Binninger fiel nun in diesem Zwischenbericht des BKA von 2002 Folgendes auf: " (...) im Bericht selber macht das BKA eine Darstellung des 'Thüringer Heimatschutzes' und nennt die Führungspersonen Wohlleben, Kapke, Schultze. Zwei davon sind heute ja auch Angeklagte. Als stellvertretende Kameradschaftsführer bzw. herausragendes Mitglied wurden bis zu ihrer Flucht im Jahr 98 angesehen (...) Mundlos, (...) Böhnhardt, (...) Zschäpe. Und dann wird das so weiter beschrieben – im Zwischenbericht des BKA. Im gemeinsamen Abschlussbericht von BfV [Bundesamt für Verfassungsschutz, der Verf.] und BKA aus dem Juli 2003 stehen dann nur noch Brandt und Kapke. Dann sind die Informationen weg. Wie kommt es dazu?"

Egerton antwortet daraufhin: "Nein, die sind nicht weg. Sie sind vermutlich im Rahmen einer Diskussion zwischen uns und dem BKA justiert worden." Und Clemens Binninger, der selbst aktiv im Polizeidienst war, kommentierte diese Antwort unmittelbar: "Das ist nett formuliert. Ich kann mir in etwa vorstellen, wie die Diskussion ablief."

Eingeweihte Ermittler des BKA und des Bundesamtes für Verfassungsschutz haben also offenbar die Mitglieder des NSU-Trios aus den gemeinsamen Ermittlungsberichten herausgenommen – und somit damals vorliegendes Wissen einer möglichen weiteren Kenntnisnahme durch andere Fahnder vorenthalten. Diese Maßnahme trug wohl ihren Teil zu der Nichtwahrnehmbarkeit des NSU-Trios bei.

Bleibt hier nur noch Folgendes anzumerken: Vergleicht man "Sebastian Egertons" Aussagen in der Vernehmung vor dem Bundestag mit Zeugenaussagen im Münchner NSU-Prozess, so zeigt sich, dass Sebastian Egerton niemand anderes ist als der bereits erwähnte "Chefideologe" und Verfassungsschützer Christian Menhorn.

Denglers Ermittlungen in der Kritik

Denglers [Protagonist der Kriminalromane, d. Red.] Ermittlungen wurden vielfach gelobt, aber es gab auch Kritik. Vorwürfe, gar den Rechtsextremismus zu verharmlosen und Verschwörungstheorien zu verbreiten, wurden erhoben. Doch meist ging man dabei nicht auf die Argumente und Rechercheergebnisse ein. Philipp Schnee etwa wirft dem Buch in einer Besprechung bei "Deutschlandradio Kultur" vor: "Schorlau tappt in eine Falle, die häufig auch bei der journalistischen und parlamentarischen Aufarbeitung des NSU droht: In der Konzentration auf die Behörden bleibt eines auf der Strecke: der Rechtsextremismus."

Diesen Vorwurf, den Rechtsextremismus zu verharmlosen, weil wir auf seine Verbindungen zu den Geheimdiensten hinweisen, halten wir für kurios. Denn: Wir finden Neonazis und andere Rechtsextreme noch wesentlich beunruhigender, wenn wir annehmen müssen, dass sie – im Hintergrund von staatlichen Stellen gestützt oder finanziert – agieren können.

Tanjev Schultz, Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", schrieb in einer Ausgabe im Januar 2016 einen längeren Artikel, in dem er sich zunächst – wie luftholend – über dies und das zu Verschwörungstheorien ausließ, um dann zu folgendem Schluss zu kommen: "Manchmal ist das, was als Verschwörungstheorie beschimpft wird, leider die ungeschönte Wahrheit. Doch oft ist es wirklich nur Schund – den viele Leute recht unterhaltsam finden. Davon profitiert jetzt der Krimiautor Wolfgang Schorlau", denn der verkaufe "den Lesern nur mit billigen Mitteln eine Lieblingslegende der Verschwörungsszene: dass Mundlos und Böhnhardt sich nicht selbst erschossen haben. Ihr Tod und der ganze NSU seien in Wirklichkeit Teile eines großen 'Staatsverbrechens'. Rechte wie Linke lesen so etwas immer gerne."

In dem gesamten Artikel findet sich kein einziges Argument, das unsere Recherchen in auch nur einem Punkt widerlegen würde. Schultz mag das Buch nicht. Das hören wir. Er denunziert "Die schützende Hand" als Verschwörungstheorie, ohne auch nur ein Beispiel anzuführen, wo wir mit unserer Recherche falschliegen. Der Begriff "postfaktisch" war noch nicht zum Wort des Jahres 2016 ernannt worden, als dieser Artikel erschien, aber wir finden, dass Schultz' Arbeit als hübsches Beispiel dafür stehen kann, was dieser Begriff meint.

Der Tatort in Eisenach-Stregda – eine Inszenierung

Wir konzentrieren uns im Roman und bei unseren Recherchen im Wesentlichen auf die Ereignisse des 4. November 2011 in Eisenach-Stregda, also auf den Tod der beiden Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Zu diesem Themenkomplex suchten und fanden wir sehr viel Material.

Wir wissen, dass man auch ähnliche Kriminalromane schreiben könnte über den Mord an Halit Yozgat in Kassel, wo der Verfassungsschutzbeamte Temme unmittelbar am Tatort war (um den Rückzug des Täters zu decken, wie wir eine Figur sagen lassen?), oder den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße, wo der Zeuge Ali Demir am Tatort zwei bewaffnete Zivilpersonen sah, nach denen bis heute nicht ernsthaft gesucht worden ist. Auch könnte man einen ähnlichen Roman schreiben über den Tatort Frühlingsstraße, also das Haus, in dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt eine Zeit lang wohnten. Auch hier passen viele der recherchierten Fakten nicht zur offiziellen Story.

Doch der gesamte Bereich der NSU-Taten ist so umfassend und unsere Kapazität leider begrenzt, sodass wir uns auf den Tatort in Eisenach-Stregda begrenzen mussten.

Nach vielen Gesprächen mit rechtsmedizinisch ausgebildeten Ärzten, Notärzten, Sanitätern, Feuerwehrleuten, Abschleppunternehmern und Bestattern, nach dem Studium umfangreicher kriminalistischer und rechtsmedizinischer Fachliteratur und nach Durchsicht von Ermittlungsunterlagen kommt Georg Dengler zu folgendem Ergebnis:

  • Sowohl Uwe Mundlos, als auch Uwe Böhnhardt waren wenigstens 12 Stunden vor dem offiziell angegebenen Todeszeitpunkt bereits tot. Wann sie genau starben, muss weiter ermittelt werden. Der Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos muss mit dem von Uwe Böhnhardt nicht übereinstimmen.
  • Der Todesort liegt sicherlich nicht in Eisenach-Stregda, Am Schafrain 2.
  • Das Wohnmobil wurde mit den beiden Toten am Vormittag des 4. November 2011 in Stregda abgestellt, und es wurde somit ein Tatort komplett inszeniert.

Wir wollen keine Albträume, sondern Aufklärung

Wir möchten darauf hinweisen, dass wir durchaus erleichtert wären, wenn wir – wie Georg Dengler zu Beginn des ZDF-Spielfilmes "Die Schützende Hand" – aus einem Albtraum aufwachen und erkennen würden: Ja, es war nur ein ganz übler Traum. Wir könnten ruhiger schlafen, wenn wir sicher sein könnten, dass im NSU nicht so viel Staat stecken würde, wie wir aufgrund unserer Nachforschungen leider annehmen müssen.

Wir wären froh, wenn unsere Recherchen sich als falsch erwiesen. Wir wären vollständig damit zufrieden, einen spannenden Roman geschrieben zu haben. Doch solange uns nur "postfaktisch" im Stil von Tanjev Schultz geantwortet wird, wird Georg Dengler nicht müde, auf die Widersprüche in der offiziellen NSU-Story hinzuweisen.

 

Wolfgang Schorlau: "Die schützende Hand". Copyright 2015, 2017 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln. 432 Seiten, 9,99 Euro. 

Im Nachwort des Taschenbuchs, das hier gekürzt wiedergeben ist, findet sich eine akribische Argumentation, die aus Sicht der Autoren die Unhaltbarkeit der offiziell angegebenen Todeszeitpunkte von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos belegt. 


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


5 Kommentare verfügbar

  • beneditkt blomeier
    am 18.06.2017
    Antworten
    hallo wolfgang, es ist doch unübersehbar, wie sich die fakten und das verhalten der jeweiligen regierung dem geschehen 9/11 gleichen.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!