Nach dem Wahlergebnis aus dem abgelegenen Nordosten steht Deutschland am Scheideweg. "Change in design oder change in desaster", zeigt einer von Kretschmanns römischen Gesprächspartnern mit viel Erfahrung in der Flüchtlingshilfe die Alternativen auf. Soll heißen: In sehr großer Zahl werden demnächst Verzweifelte den Weg nach Europa suchen. Dann wird der Kontinent entweder "mit Kreativität und Risikobereitschaft an kreativen Lösungen" arbeiten, oder er wird überrannt. Weil Schlepper längst auf dem längeren Ast sitzen und Schlepperei heute mindestens so lukrativ ist wie Sklavenhandel im 17. oder 18. Jahrhundert.
Oder weil, so die im Vatikan für ihre Flüchtlingspolitik geradezu verehrte Kanzlerin nach dem G-20-Gipfel, Direktinvestitionen in Europa weiterhin zehn Mal so hoch sind wie auf dem afrikanischen Kontinent, obwohl dort zehn Mal so viele Menschen leben. "Wir müssen die traditionelle Entwicklungshilfe erhöhen, es müssen aber vor allem wirtschaftliche Perspektiven geschaffen werden", verlangt Albrecht von Boeselager, der Großkanzler des Malteserordens. "Wie soll ich baden-württembergische Mittelständler davon überzeugen, in Eritrea zu investieren?", fragt wiederum der CDU-Landesvorsitzende Thomas Strobl voller Skepsis. Die Antwort, sagen Helfer des Ordens, der in 120 Ländern der Erde aktiv ist, muss die Politik geben.
Kretschmann vom Papst links überholt
Dieser Papst aber hat sie längst formuliert. "Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen", urteilt er unmissverständlich 2013 im Apostolischen Schreiben "Evangelii Gaudium". Dann fallen drei Worte, die Millionen Unternehmern und Politikern, die sich im christlichen Glauben verankert meinen, durch Mark und Bein gehen müssten: "Diese Wirtschaft tötet." Größte Verdrängungsleistung ist auch gefragt angesichts der Botschaft, die er im Herbst 2014 ins Europäische Parlament mitgebracht hatte: "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird!" Oder wenn der gelernte Chemietechniker den Bogen zur Zerstörung der Lebensgrundlagen schlägt: "Achtung vor der Umwelt bedeutet mehr, als bloß reinere Produkte zu gebrauchen oder von uns gebrauchtes Material der Wiederaufbereitung zuzuführen. [...] Wenn wir unsere Wälder zerstören, unseren Erdboden verwüsten und unsere Meere verseuchen, verraten wir unsere edle Berufung."
Natürlich sprach Kretschmann mit Franziskus über die Bewahrung der Schöpfung, über Ökonomie, Ökologie und Nachhaltigkeit. Und auch der grüne Kanzlerinnen-Unterstützer muss sich vom Papst gewissermaßen von links anmachen lassen. Denn der stellt Rücksichtlosigkeit gegenüber der Natur ohne Zögern in eine Reihe mit jener gegenüber dem Nächsten. "Die katholische Kirche kann sich glücklich schätzen, so einen wachen und aufmerksamen Papst zu haben, der alles verfolgt, was in der Welt passiert", wird der Ministerpräsident nach dem gut halbstündigen Gespräch unter vier Augen loben. Und könnte gleich damit beginnen, seine Position zu gravierenden sozialen Missständen auch in Deutschland zu überdenken und seine Position zur Erbschafts- und zur Vermögenssteuer.
Überhaupt hätte die Umsetzung päpstlicher Mahnungen in praktisches Handeln weitreichende Folgen. Kretschmann und Strobl könnten umgehend nach Oberndorf fahren und der dort ansässigen Rüstungsindustrie auf die Zehen treten. Nach Schätzungen von "Ohne Rüstung Leben" stirbt alle 14 Minuten irgendwo auf der Welt ein Mensch durch eine Kugel aus dem Lauf eines in der Kleinstadt am Neckar gefertigten Präzisionsgeräts. Ändern oder ergänzen könnte der Grüne auch seine Reiseplanungen. Ende Januar geht es nach Indien mit einer großen Unternehmerdelegation, natürlich weil die Exportweltmeister Exportweltmeister bleiben wollen und weil nach allgemeiner Ansicht in diesem System der eigene Vorteil immer zuerst kommen muss. Die Markterschließer von "Baden-Württemberg International", die seit mehr als 30 Jahren im Auftrag des Landes unterwegs sind, bieten auf ihrer Homepage Informationen zu rund 60 Regionen. Darunter sind mit Ägypten und Südafrika ganze zwei von unserem Nachbarkontinent im Süden. Wer sie anklickt, endet im Nirwana des Netzes.
Nachhilfe in Sachen Entwicklungshilfe
Einer der Gastgeber in Rom kam auf Nigeria zu sprechen. Das westafrikanische Land müsste reich sein, angesichts der Erdöl- und Erdgasvorkommnisse. Es ist aber eines der ärmsten der Welt. Seine Märkte werden überschwemmt mit Billigwaren, die die EU subventioniert – von Widerstand aus Deutschland oder speziell dem deutschen Südwesten ist bisher nichts bekannt. Wenn es um effektive Entwicklungshilfe geht, heißt es in der Ersten Welt gern, mit den korrupten Systemen in der Dritten Welt sei leider kein Staat zu machen. Für die Sicherung von Fischereirechten zum Schaden der ortsansässigen Fischer sind die korrupten Systeme aber gut genug.
2 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 22.02.2019Jetzt ist dieser Artikel so Umfangreich und vielfältig (ohne einfältig zu sein), dass sich derart viele Ansatzpunkte für Rückbetrachtungen, wie auch Zukunftsbetrachtungen, aufdrängen!
Also ein erster Ansatz der Kommentierung - Christen,…