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Stuttgart 21 in der Fußballfalle

Stuttgart 21 in der Fußballfalle
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Der Tiefbahnhof im Bundestag, es geht um milliardenschwere Kostenexplosionen und gefährliche Sicherheitsmängel. Ein drängendes Thema, ein schlechter Zeitpunkt: Denn um 21 Uhr liefen Jogis Jungs zum Halbfinale auf. Im Schatten eines Länderspiels wurde schon so manche Abstimmung zügig durchgewinkt. Für S 21 blieben 25 Minuten.

Die Debattierlust vieler Bundestagsabgeordneten hielt sich schon im Vorfeld in Grenzen. "Stuttgart-21-Debatte am Donnerstagabend!? Da hatte ich eigentlich etwas anderes vor", twitterte Steffen Bilger am 5. Juli. Damit meinte der CDU-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Ludwigsburg zweifellos das EM-Halbfinale Deutschland gegen Frankreich. Der Kick war am selben Abend in Marseille terminiert. Bilgers Tweet verrät, auf was der 37-jährige Politiker, der seit 2009 für die CDU im Bundestag und in dessen Verkehrsausschuss sitzt, mehr Bock hatte: lieber beim Länderspiel mitfiebern als mit Linken und Grünen mal wieder darüber zu streiten, welchen Sinn die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs überhaupt hat. Bereits im Februar hatten sich Regierungskoalition und Opposition einen Schlagabtausch über einen Ausstieg aus dem Milliardenprojekt geliefert, ohne dass eine Korrektur an den bekannten Positionen erkennbar wurde.

Gerade mal 25 Minuten der kostbaren Debattenzeit waren dann für TOP 17 reserviert, unter dem drei Anträge der Opposition über Stuttgart 21 zur Abstimmung kamen. Zwei davon stammten von der Linken: Einer forderte den Stopp des Projekts, um die Deutsche Bahn als bundeseigene Bauherrin vor einem finanziellen Desaster zu bewahren, so die Begründung. Der andere brandmarkte die überhöhte Gleisneigung im geplanten Tiefbahnhof als Sicherheitsrisiko und verlangte eine Verschärfung der Eisenbahnbetriebsordnung, die einen geplanten Schiefbahnhof wie in Stuttgart ausschließen würde. Die Grünen drangen mit ihrem Antrag auf eine kritische Prüfung der Kostenentwicklung beim Jahrhundert-Bahnhofsprojekt. Sie verlangten, dass die Bundesregierung auch berechne, was mögliche Alternativen zum Tiefbahnhof kosten.

Dabei hatte ein Medienbericht der Debatte zusätzliche Brisanz verliehen. Am selben Tag, an dem Steffen Bilger seinen Null-Bock-Tweet absetzte, vermeldete die "Stuttgarter Zeitung", dass der Bundesrechnungshof nach mehr als dreijährigen Prüfungen mit Kosten in Höhe von bis zu zehn Milliarden Euro für Stuttgart 21 kalkuliere. Bereits im vergangenen Dezember hatte der Münchner Verkehrsplaner Martin Vieregg im Auftrag der Projektkritiker die gleiche Endsumme prognostiziert.

Als Bundestags-Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn Stuttgart 21 schließlich aufruft, da warteten Boateng & Co. tatsächlich schon in Marseilles Stadionkatakomben auf ihren Einsatz. "In 13 Minuten ist Anpfiff, und ich wünsche unserer Mannschaft vollen Erfolg!", gab die SPD-Bundestagsabgeordnete Annette Sawade gleich zu Beginn ihrer Rede zu Protokoll, dass auch ihre Gedanken weniger bei den Katastrophenmeldungen aus dem Stuttgarter Talkessel waren. "Es ist nicht der Abpfiff für Stuttgart 21", betonte die S-21-Berichterstatterin ihrer Partei gleichwohl. Im Schnelldurchlauf wischte die Abgeordnete aus Schwäbisch-Hall die Einwände der Opposition vom Tisch: "Stuttgart 21 wird gebaut, und es geht voran; denn es ist nun einmal beschlossen, und es wird an diesem Bahnhof nicht fahrlässig mit der Sicherheit der Fahrgäste umgegangen, auch wenn 'Frontal 21' (ZDF-Politmagazin, die Redaktion) etwas anderes suggerieren wollte."

Natürlich müsse auch offen die Kostenentwicklung besprochen werden. Doch lägen der Prüfbericht des Bundesrechnungshofs und die Stellungnahme des Verkehrsministeriums bislang nicht vor. Dem Bahnaufsichtsrat werde erst am 6. September ein externes Kostengutachten vorgelegt. Statt ständiger Spekulationen, Mutmaßungen und Szenarien müssten deshalb Ruhe und Besonnenheit einkehren. "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht", mit einem Sprichwort aus Sambia schloss Sawade ihre Rede, die von den zu diesem Zeitpunkt noch anwesenden Abgeordneten von SPD und CDU/CSU mit Beifall bedacht wurde.

Der CDU-Abgeordnete Steffen Bilger sparte sich seinen Redeauftritt gar, wohl um nicht zu spät vorm Fernseher zu sitzen. Er gab, ebenso wie sein Parteikollege Alexander Funk, seinen Debattenbeitrag zu Protokoll. Wer sich die Mühe macht, <link http: dipbt.bundestag.de doc btp external-link-new-window>Bilgers Rede im elektronischen Archiv des Bundestags herauszufischen, erfährt Aufschlussreiches. Mögliche Kostensteigerungen hält der CDU-Verkehrsexperte zwar auch für möglich. Doch um "nur" 500 Millionen Euro, auf Baukosten von insgesamt rund 6,5 Milliarden Euro. Es sind genau die Zahlen, die der Bahnvorstand zuletzt im vergangenen Juni dem Aufsichtsrat des Konzerns als aktualisierte Kostenberechnung einräumte.

Bilger bereiten die bislang offiziell bekannten Mehrkosten offenbar keine großen Sorgen. Denn sie seien nur hälftig baubedingt oder einem verbesserten Brandschutz geschuldet, betont er in seiner ungehaltenen Rede. Als wahre Kostentreiber identifiziert der Vorsitzende des CDU-Bezirksverbands Nordwüttemberg den Naturschutz: "10 000 Eidechsen, die allesamt umgesiedelt und anschließend 30 Jahre lang beaufsichtigt werden müssen. Kostenpunkt: 8600 Euro pro Eidechse", heißt es im Redemanuskript. In einem früheren Kontext-Interview hatte der Münchner Verkehrsplaner Martin Vieregg die ursprünglich von der Bahn gestreute <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik echsen-sind-nicht-schuld-3690.html internal-link-new-window>Kostentreiber-Geschichte des Reptilienschutzes als wenig glaubwürdig kritisiert.

Daneben beruft sich Bilger auf die Volksabstimmung vom 27. November 2011, die weiter gelte. Die Baden-Württemberger hatten sich damals mehrheitlich gegen einen Ausstieg des Landes aus dem Tiefbahnhofprojekt entschieden. Damals war das Jahrhundertprojekt allerdings nach offizieller Lesart noch für zwei Milliarden Euro günstiger zu haben. Zuletzt bemüht Bilger in seiner Rede ein Uralt-Argument der S-21-Befürworter, das längst widerlegt ist: Durch den Tiefbahnhof würden 109 Hektar nicht mehr benötigte Gleisflächen mitten in der Innenstadt frei, auf denen 11 000 Menschen Wohnraum finden und 24 000 Arbeitsplätze entstehen würden. Tatsächlich sind es nur rund 20 Hektar, die durch Stuttgart 21 zusätzlich verfügbar werden. Alle anderen Flächen wie das Europaviertel sind bereits frei und neu bebaut oder könnten auch bei Erhalt des Kopfbahnhofs freigemacht werden.

Bisher gibt es keine offizielle Bestätigung, aber auch kein Dementi des Bundesrechnungshof für eine weitere Kostenexplosion bei Stuttgart 21 auf bis zu zehn Milliarden Euro. Doch allein, dass solch eine Hiobsbotschaft in einem Atemzug mit einer unabhängigen Bundesbehörde genannt wird, sollte die Alarmglocken schrillen lassen. Allen voran bei den Abgeordneten des Bundestags, deren Aufgabe darin besteht, über öffentliche Haushalte und bundeseigene Unternehmen zu wachen. Denn als direkt gewählter Vertretung des Volkes kommt dem Parlament "neben seiner Funktion als Gesetzgeber eine weitere sehr wichtige Aufgabe zu: die Kontrolle der Bundesregierung", wie es so schön auf den Internetseiten des Bundestags heißt.

Doch unter den Abgeordneten der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD war am Abend des EM-Halbfinales die Bereitschaft gering, Geldflüsse und Baupläne bei Stuttgart 21 zu kontrollieren. Mit ihrer Mehrheit lehnten sie die Anträge der Linken ab. Der Grünen-Antrag wurde in die Ausschüsse verwiesen.

"Bei Stuttgart 21 stehen keine Peanuts, sondern Milliarden auf dem Spiel", resümiert Matthias Gastel, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen, die Debatte. Da die Deutsche Bahn das Kostenrisiko trägt, stehen mit steigenden Kosten für S 21 auch wichtige Investitionen in den Erhalt und den Ausbau des Schienennetzes in ganz Deutschland sowie die Anschaffung von dringend benötigtem, neuem Wagenmaterial auf dem Spiel, so der Abgeordnete aus dem Wahlkreis Nürtingen/Filder gegenüber Kontext. Statt sich ernsthaft mit Stuttgart 21 auseinanderzusetzen, wischten Bundesregierung und Koalition alle Bedenken der Projektkritiker und Mitverantwortlichkeiten des Bundes mit der immer weniger haltbaren "Eigenwirtschaftlichkeit" des Projektes beiseite. "Anstatt Probleme unter den Teppich zu kehren, braucht es Ehrlichkeit, Transparenz und die Übernahme von Verantwortung durch den Bund", sagt Gastel. Er fordert, die Prüfberichte des Bundesrechnungshofs sowie das eigene Kostengutachten der Bahn schnellstmöglich fertigzustellen und zu veröffentlichen. Zudem seien Ideen für Projektmodifizierungen, wie etwa für einen Kombibahnhof, zu bewerten.

Damit droht bei Stuttgart 21 die gleiche Entwicklung wie beim Berliner Pannenflughafen BER. Dort fiel es erst einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu, Gründe und Ursachen für Kostenexplosionen und Zeitverzug zu erkennen. So führten etwa "mangelnde Kontrolle", ein "Verantwortungsvakuum" sowie "kollektiver Wirklichkeitsverlust" zu dem Debakel, welches das Jahrhundertprojekt zur tragischen Lachnummer machte. "Losgelöst von den jeweiligen Einzelverantwortlichkeiten lässt sich die Häufung von Fehlentscheidungen und Fehlinformationen nur unter Berücksichtigung einer Unternehmens- und Projektkultur erklären, die Anzeichen für Fehlentwicklungen und teils alarmierende Warnungen externer Stellen systematisch ausblendete", heißt es im entsprechenden Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses, der vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde.

Rund 600 Kilometer südwestlich der Berliner Dauerbaustelle, mitten im Schwabenland, laufen die ersten Wetten, dass die gleichen Worte und Sätze Verwendung finden, sollten Parlamentarier oder gar Richter jemals genauer untersuchen, wie es zu einem Stuttgart-21-Fiasko kommen konnte.


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6 Kommentare verfügbar

  • Dr. Diethelm Gscheidle
    am 26.07.2016
    Antworten
    Sehr geehrte/s Frau/Fraulein Andrea,

    so ein Unsinn! Der Hauptunterschied zwischen Stuttgart-21 und dem BER ist, dass der BER ein defizitäres Sozen-Projekt ist, das mal wieder nur zeigt, dass die Sozen nicht mit Geld umgehen können (das ist schon seit über 40 Jahren meine Rede!). Stuttgart-21 ist…
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