An der offiziellen Prognose hat sich nichts geändert: Das Bundesinnenministerium geht davon aus, dass im laufenden Jahr insgesamt 800 000 Menschen nach Deutschland kommen, gut 100 000 davon nach Baden-Württemberg. Für die ersten neun Monate liegt eine Ist-Bilanz schon auf dem Tisch: Registriert wurden bundesweit 577 305 Zuwanderer, nur 274 923 haben ihren Asylantrag gestellt. 52 789 waren es in Baden-Württemberg und 14 683 allein im September. Nach einer Übersicht des Integrationsministeriums sind im selben Monat weitere 15 000 Flüchtlinge eingereist, die noch darauf warten, um Asyl anzusuchen.
Von "zehntausend Tag für Tag", wie sie in Union und AfD ebenfalls gerne beschworen werden, kann keine Rede sein. So wenig wie von 920 000 Migranten, die die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben für das vierte Quartal 2015 kommen sah, unter Berufung auf eine interne Berechnung des Bundesinnenministeriums. Da müssten an den 92 Tagen von 1. Oktober bis 31. Dezember tatsächlich zehntausend pro Tag anklopfen. In Wahrheit schwankt die Zahl der Grenzübertritte auf einem deutlich anderen, nämlich niedrigeren Niveau. Die Verantwortlichen der Stadt München schreiben in einer offiziellen Mitteilung am 20. Oktober, noch immer träfen Flüchtlinge am Hauptbahnhof ein, im "dreistelligen Bereich pro Tag". So wenige, dass Unterstützer aktiv geworden sind. Er glaube, "dass Bilder von Menschen, die helfen, und solchen, denen geholfen wird, aber politisch nicht gewollt sind", meint Colin Turner von der Flüchtlingshilfe in der bayerischen Landeshauptstadt. Vielmehr würden "Probleme im Grenzgebiet mindestens fahrlässig, wenn nicht absichtlich herbeigeführt".
Da passt ins Bild, wie CSU-Politiker immer lauter über die "grüne Grenze" im Raum Passau schwadronieren, obwohl eine unkontrollierte Einreise nach Bayern mit einer Durchquerung von Inn oder Donau verbunden wäre. "Die weißen Verpflegungszelte auf der deutschen Seite sind leer, der lange Stau ist in Österreich", schreibt die "Stuttgarter Zeitung" verdienstvollerweise in einem Lokalaugenschein. Und dass die Situation auch deshalb so angespannt ist, weil viele Flüchtlinge gar nicht in bereitgestellte Unterkünfte wollten, in der Angst, Deutschland könnte die Grenzen völlig schließen.
Scharfmacher operieren mit falschen Zahlen
Natürlich weist die Staatsregierung alle Vorwürfe, die Situation absichtlich und im Sinne ihrer Abschreckungsideologie zu eskalieren, von sich, um ihrerseits über falsche Zahlen zu spekulieren. Von 270 000 bis 280 000 Ankommenden allein im September ist die Rede. Der frühere CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer beschuldigt Österreich - in der in bestimmten Kreisen so beliebten drastischen Wortwahl -, den Behörden in Freilassing "jeden Tag 2000 Menschen vor die Füße zu kippen". Die Grenzstadt selbst weiß es anders: Am 1. Oktober, dem Tag mit dem Maximum, reisten 2600 Flüchtlinge ein, seither kommen zwischen 700 und 1500 täglich. "Selten weniger", sagt ein Sprecher und erzählt von einer Versammlung im Rathaus mit fast 400 Leuten. Viele seien ratlos, aber gegen Transitzonen und nicht gegen Zuwanderer. Davon erzählt Ramsauer nichts, dafür aber von den "riesigen Besorgnissen" der Bevölkerung und dass "jeden Tag in dieser Frontlinie bombardiert" werde. Die Stimmung, behauptet der einstige Bundesverkehrsminister, sei "längst gekippt".
Und das Geschäft solcher Scharfmacher besorgt der Grüne mit, wenn er in einschlägigen Nachrichtensendungen mit bedenkenträgerischer Miene die deutsche Überforderung beklagt. Beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck im April 2012 erläuterte Tübingens OB Boris Palmer im zweiten Stock des Rathauses stolz die Darstellungen der Gerechtigkeit (Justitia) und der Klugheit (Prudentia). Jetzt nimmt er für sich in Anspruch auszusprechen, was andere sich zu sagen nicht trauen. Genauso argumentieren allerdings Unions-Hardliner oder Rechtsaußen-Stadträte der AfD. Außerdem sind noch nicht einmal die vorhandenen rund tausend Plätze in Tübingen belegt. Ganz zu schweigen von dem Vorbild, das andere baden-württembergische Kommunen geben. In Stuttgart werden bald in der fünften Tranche dezentrale Unterkünfte in Systembauweise errichtet. In manchen Bezirken liegt der Anteil der Zugezogenen bereits bei knapp drei Prozent der Bevölkerung. Danach müsste die Universitätsstadt am Neckar rund 2500 Hilfesuchende unterbringen. Der OB gibt sich schon jetzt "überrollt". Er wisse "nicht mehr ein und aus". Immerhin will er ein Wohnungsbauprogramm auflegen. Weil es schnell gehen muss, gegebenenfalls auch "unter Ausblendung aller gesetzlichen Hindernisse".
6 Kommentare verfügbar
Petzi
am 02.11.2015achso, aber zuerst einmal kosten sie extrem viel (für Ärzte, Sprachkurse, Lebenshaltung, Wohnung, Hartz4, Schulbildung etc.) – es gibt ja genug Statistiken, die zeigen, dass Migranten ohne Sprachkenntnisse in den ersten fünf Jahren nur selten einen Job…