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Besser wohnen in Wien

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Es lebe der Gemeindebau: Wien macht vor, was deutsche Kommunen nicht wagen. Auch Stuttgart nicht. Als erste europäische Metropole baut die österreichische Hauptstadt wieder selber Wohnungen. Das hat der Gemeinderat vergangene Woche einstimmig beschlossen. Als Reaktion auf die große Nachfrage nach günstigen Angeboten. Eine Mietpreisbremse alleine reicht eben nicht.

Ernst Reuter und George Washington sind Namensgeber, Goethe und Theodor Herzl, Albert Einstein, Jean Jaurès, Karl Liebknecht und Richard Strauss, natürlich die unvergessenen Olof Palme, Salvador Allende oder Bertha von Suttner. Michael Häupl, Wiens Bürgermeister seit zwanzig Jahren, wird einer werden. Er kann sich auch schon ziemlich genau ausrechnen, wo sein Name in den traditionellen roten Lettern angeschlagen wird, denn rund die Hälfte der mehr als 2300 Gemeindebauten heißt nach berühmten und weniger berühmten Menschen, Sozialisten und Widerstandskämpfern, Denkmalschützern oder Kommunalpolitikern. Der künftige Häupl-Hof wird im Arbeiterbezirk Favoriten stehen, in der Fontana-Straße 1.

Denn dort schreibt der promovierte Zoologe Geschichte: In Bälde zieht die Stadt, den EU-Zielen und allen Investoren-Erwartungen zum Trotz, 120 neue Wohnungen hoch. Während in Deutschland ein Gesetz zur Mietpreisbremse verabschiedet wurde, schwierig zu handhaben und von Ausnahmen durchlöchert wie Emmentaler, heißt die Devise in der Donaustadt: Wir nehmen Geld in die Hand und bauen. Günstigen Wohnraum für maximal 7,50 Euro pro Quadratmeter, inklusive aller Steuern, Abgaben, Betriebs- und Nebenkosten.

"So wie die Menschen zu Recht fordern, dass sich die Politik im Finanzsektor mehr einmischt, sollten wir es auch im Wohnungssektor machen", sagt Häupl. Ein Sondertopf ist gefüllt mit weiteren 25 Millionen Euro, neben den ohnehin reichlich fließenden Fördergeldern. Allein im Vorjahr kamen fast 8000 mitfinanzierte Einheiten auf den Markt. Ganze Stadtviertel entstehen, wie im 22. Bezirk auf der Fläche von 340 Fußballfeldern.

Dass im Oktober Gemeinderatswahlen stattfinden, spielt gewiss eine wichtige Rolle, erklärt den Schwenk aber nicht erschöpfend. Denn einschneidende Eingriffe in den Markt haben eine fast hundertjährige Tradition in Wien. Nach Ende des Ersten Weltkriegs spitze sich die ohnehin schon verheerende Situation von hunderttausenden Menschen in der viel zu großen Stadt für das kleine neue Österreich unerträglich zu. Nicht nur in Elendsquartieren wurde unter katastrophalen hygienischen Zuständen in Schichten geschlafen. Drei Viertel der Wohnungen waren überbelegt. Hinzu kam, dass immer mehr Armutsflüchtlinge aus dem K.u.K-Reich in die Metropole drängten.

Immobilienbesitzer verdienten mit der Vermietung der damals üblichen Zimmer-Küche-Wohnungen ohne Bad und mit Gemeinschafts-WC Unsummen - bis das rote Wien 1920 ein eigenes Bundesland wurde und das Recht erhielt, selbst Steuern zu erheben. Sofort begannen die mit absoluter Mehrheit regierenden Sozialdemokraten, an der Steuerschraube zu drehen, und zwar in ungeahntem Ausmaß.

Der Finanzstadtrat Hugo Breitner, ein Bankbeamter jüdischer Herkunft, entwickelte ein Abgabensystem für jede Form von Luxus, für Pferde und Sekt, für Lustbarkeiten alle Art, sogar für Hauspersonal. Öffentliche Schulden aufzunehmen war verpönt, um nicht wieder Spekulanten, wie Aktienkäufer und -verkäufer damals hießen, Kreditzinsen zuzuschanzen. Im Januar 1923 verabschiedete der Gemeinderat eine streng zweckgebundene gestaffelte Steuer, zu entrichten von allen Besitzern vermietbarer Räume. Fast die Hälfte der Erlöse wurde von einem halben Prozent der Objekte erbracht. Diese radikal progressive Kurve entzog der Ausbeutung von Mietern im großen Stile die Rentabilität, die Grundstückpreise fielen in den Keller, die Stadt kaufte und machte dem freien unsozialen Markt endgültig den Garaus.

In nur sieben Jahren entstanden mehr als 60 000 Wohnungen. Zwei Drittel der Bevölkerung wählten rot. Die bürgerlichen und die klerikalen Parteien liefen Sturm. Hetz- und Verleumdungskampagnen zogen aber auch Interessierte aus dem Ausland an. Mit durchaus überraschenden Ergebnissen: Über ein "Wunder, das es im Europa der Gegenwart gibt" schrieb staunend der konservative "Spectator" in London, "über das Wunderbare der sozialen Reformen", über die Kindergärten und die Spielplätze, die Wohlfahrtsanstalten, Ambulatorien, Arztpraxen und Waschküchen, die Friseurläden und Freibäder, die nicht so hießen, weil es kein Hallendach gab, sondern weil der Eintritt frei war. Und über die lockere Bauweise, bei der mindestens 50 Prozent der Fläche begrünter Hof sein musste. Der "Konsum" gehörte zum Standard. Und weil die von der Rechten gern als versoffene Proleten diffamierte Arbeiterschaft einen immensen Bildungswillen entwickelte, wurden reihenweise kleine Bibliotheken eingerichtet und Volkshochschulen, das Sportvereinswesen blühte.

Wien stellte Ende der Zwanziger Jahre eine Milliarde Schilling für Investitionen von allgemeinem Nutzen zur Verfügung und war sogar noch in der Weltwirtschaftskrise schuldenfrei. Dann kam der Bürgerkrieg 1934 und eine von der Christlich-Sozialen Partei angeführte rechte Sammelbewegung zerschlug die Demokratie. Elf Jahre später, gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nahm die Gemeinde ihre segensreiche Tätigkeit sofort wieder auf.

Die erste Wohnanlage, in der bis heute 3 500 Menschen leben, trägt den Namen Hugo Breitner. Zwischen 1950 und 1970 entstanden 100 000 Gemeindewohnungen, in den Sechzigern jährlich 9 000. Später rollten mehrere Sanierungswellen durch den Bestand, neuer Komfort inklusive. Weil Staubsauger Standard wurden, boten die Nischen der kleinen Gemeinschaftsbalkone, die geschaffen worden waren, um Bettzeug auszuschütteln oder Teppiche zu klopfen, die Chance zur altengerechten Ausstattung mit Aufzügen. Inzwischen sind viele der Gebäude auch energetisch saniert. 

2004 war Schluss. Endgültig, verlangten die Brüsseler Wettbewerbshüter im neoliberalen Geiste, der auf Privatinitiative, private Rendite, Wettbewerb und auf eine Schwächung des Staates setzt. Zudem entfalteten die Maastricht-Kritierien ihre Wirkung. Die öffentliche Hand hatte sich immer weiter zu zügeln oder gar ganz zurückzuziehen.

In der Bundesrepublik wurde massiv geworben für den Verkauf kommunalen Immobilienbesitzes. Das Institut der deutschen Wirtschaft errechnete einen Reingewinn von 25 Milliarden Euro, würden alle Kommunen in der Republik ihren Besitz abstoßen. Viele folgten den falschen Propheten, allen voran Berlin, Dresden oder die Stadt Hamburg. In Baden-Württemberg kam der LBBW-Wohnungsbestand im Zuge einer Kapitalerhöhung samt EU-Behilfsverfahren unter die Räder und wurde an die Augsburger Patrizia AG verscherbelt. Ein von der Stadt Stuttgart angeführtes Konsortium ging in dem Milliarden-Deal leer aus.

Wien widerstand allen Verlockungen und besitzt heute noch 220 000 Wohnungen. Ab sofort soll mindestens jede zehnte Einheit, die errichtet wird, wieder den Schriftzug "Erbaut von der Stadt Wien" tragen. "Speziell der sensible Wohnungsmarkt ist nichts für das entfesselte neoliberale Spiel der freien Kräfte", wirbt Michael Häupl für die neue alte Linie. Denn dabei "bereichern sich nur einige wenige auf dem Rücken der überwältigenden Mehrzahl hart arbeitender Menschen".

Das Beispiel soll Schule machen. Schon seit 14 Monaten liegt eine von den Wiener Sozialdemokraten angestoßene Resolution "für den sozialen Wohungsbau in Europa" auf dem Tisch. Unterzeichnet haben zahlreiche Bürgermeister von A wie Amsterdam bis Z wie Zagreb, darunter auch jene aus Berlin, Frankfurt, Hamburg und Leipzig. Sie verlangen von der EU unter anderem, sich herauszuhalten aus dieser Form der kommunalen Daseinsvorsorge und "die Einengung auf benachteiligte und schwächere Bevölkerungsgruppen" zu revidieren. In mehreren EU-Mitgliedsstaaten hatten Investoren geklagt und - mit Verweis auf die Brüsseler Wettbewerbsregelungen - Recht bekommen. 2009 mussten deshalb beispielsweise in Holland die Schwellen für das Anrecht auf staatliche Mietzuschüsse um rund ein Sechstel gesenkt werden.

"Geförderter Wohnraum muss für breite Schichten der Bevölkerung weiterhin zugänglich sein", halten die Bürgermeister dagegen. Die Beschränkung allein auf einkommensschwache Gruppen "würde zu sozialer Segregation führen". In Wien werden solche Einsichten Allgemeingut: Um einen Vormerkschein für eine Gemeindewohnung zu bekommen, darf eine dreiköpfige Familie jährlich 74 000 Euro netto zur Verfügung haben. Zum Vergleich: In Stuttgart kann eine dreiköpfige Familie auf eine Sozialwohnung bei etwa der Hälfte der Summe hoffen - brutto. 

Wien ist anders, verspricht die Stadtwerbung seit vielen Jahren. Ein Viertel aller Wiener und Wienerinnen mit und ohne österreichischen Wurzeln lebt im Gemeindebau, im Bezirk Favoriten sogar die Hälfte. Darunter sind Sportlegenden und Burg-Schauspieler, Manager oder grüne Spitzenpolitiker, sie alle sorgen für die gewünschte soziale Durchmischung.

Natürlich ist auch dort nicht alles rosig: Es gibt Ärger zwischen Ureinwohnern und Migranten, vor allem seit Letzteren der Zugang erleichtert wurde. Es gibt immer wieder erschreckend hohe Wahlergebnisse für die rechtsgerichtete FPÖ. Aber es gibt auch noch das in jedem Stadtführer beschriebene Milieu, mit den spielenden Kindern, den begrünten Innenhöfen, mit manch kleinem Laden, mittlerweile oft von Einwanderern der zweiten oder dritten Generation geführt, in dem keine Rabattmarken mehr geklebt werden, aber Stammkunden finden, was sie brauchen.

Und am 1. Mai sind viele Fenster, dank der extra dafür vorgesehenen Halterungen, noch immer geschmückt mit den kleinen roten Fahnen, samt der drei weißen Pfeilen, die nicht in dem Himmel, sondern auf die Erde weisen, als Symbol für die Vernichtung des Kapitalismus, des Faschismus und der Reaktion.

Im Karl-Marx-Hof, dem Urtypus und größten zusammenhängen Gebäude der Welt mit 1,1 Kilometer Fassadenlänge, ist aus der Bibliothek ein Senioren-Treff geworden und im "Waschsalon 2" das Ausstellungs- und Dokumentationszentrum des "Roten Wien" untergebracht. Viele der Anlagen sind architektonische Leckerbissen, mit jeder Menge Kunst und Skulpturen. Die Größen ihrer Zeit gaben sich die Ehre. Manche sind doppelt verewigt, wie Margarete Schütte-Lihotzky, die als Erfinderin der "Frankfurter Küche" zu Weltruhm gelangte erste Frau, die in Österreich ein Architekturstudium abschloss. Sie entwarf in den Zwanzigern Gemeindebauten, zum Beispiel im 3. Bezirk, und einer wurde nach der unbeugsamen kommunistischen Widerstandskämpferin benannt. 1997, in Wien-Floridsdorf, zu ihrem 100. Geburtstag, tanzte sie mit Häupl einen Walzer. 

Die Häuser und ihre Mieterschaft sind auch ordentlich besungen (Georg Danzer: "Du bist die Blume aus dem Gemeindebau"), TV-Serien sind darüber entstanden, Gedichte wurden geschrieben und jede Menge Kabarettnummern. "Wir müssen wieder beginnen", verlangte Österreichs Bundeskanzler Bruno Kreisky, "unsere großen Grundsätze zu verwirklichen." Das war 1977.

2015 sollen alljährlich 2000 neue Gemeindewohnungen entstehen. In der Fontana-Straße 1 in Favoriten könnten es insgesamt 470 sein, samt der obligatorischen Kindertagesstätte. Und Häupl müsste für seine Eröffnungsrede die richtigen Worte nicht lange suchen. "Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen", prognostizierte anno 1930 sein Vorgänger Karl Seitz bei der Einweihung des Karl-Marx-Hofs. Was für ein Privileg für die Bürgerschaft, wenn ihre Stadtmütter und -väter das von sich sagen können.


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5 Kommentare verfügbar

  • Bernhard B.
    am 05.04.2015
    Antworten
    Eine wunderschöne Aussicht, wenn sich das Rad der Privatisierungen wieder zurückdrehen sollte. Leider kenne ich aber auch im ehemaligen öffentlichen Wohnungsbau gravierende Schwachstellen in der Pflege dieser Wohnungen/ Häuser. Hier sollte zumindest eine Kontrollinstanz mit eingebaut werden, die…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 13 Stunden
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