Das dreiköpfige Auswahlkomitee nimmt seine Aufgabe ernst. Mir gegenüber sitzen zwei Männer und eine Frau, wie ich in den Dreißigern und bis heute irgenwie im WG-Leben hängen geblieben. Zwei Wochenenden haben sie sich nur dafür reserviert, ihre neue Mitbewohnerin zu rekrutieren. 150 Bewerberinnen gibt es, jede einzelne wurde zum Casting eingeladen. Objekt der Begierde ist "ein WG-Zimmer, 16 qm, S-West, 300 € warm". Nicht gerade ein Traumpalast: relativ dunkel und mit Aussicht — auf eine Backsteinwand. Egal, ich nehme alles. Mein derzeitiges Zimmer wurde gekündigt, wegen Eigenbedarfs. Mir bleibt noch eine dreimonatige Gnadenfrist. Der Untersuchungsausschuss nimmt mich ins Kreuzverhör. Mein Beruf, meine Hobbys, meine bevorzugten Clubs, meine politische Einstellung, meine WG-Erfahrung? Ich komme ordentlich ins Schwitzen. In den Gesichtern des Tribunals lese ich unverhohlene Skepsis, detektivischen Eifer und, so meine ich erkennen zu können, eine Portion sadistischer Befriedigung.
Einen Tag nach der Befragung schicke ich eine vorsichtige SMS. Wie stehen meine Erfolgschancen? Nach Stunden bangen Wartens vibriert endlich mein Handy. Der "erste Eindruck war gut", die anderen Bewerberinnen müssten aber noch geprüft werden. Schon verloren, denke ich, ein nur "guter" Eindruck reicht sicher nicht, nicht bei dieser Masse an Konkurrentinnen.
Deshalb suche ich weiter. Ich finde ein passendes Angebot. In einer ausführlichen Mail stelle ich mich vor und bitte um einen Besichtigungstermin. Nach zwei Tagen erhalte ich eine verstörende Antwort. Ich soll nun noch in ein paar Sätzen begründen, warum ich gerade in diese WG einziehen will. Wie bitte?! Ich brauche doch nur einen Platz zum Schlafen! Und abends will ich vielleicht noch mit ein paar netten Menschen in der WG-Küche ein Bier trinken! Ich will weder einen Bund für's Leben schließen noch ins Management eines Großkonzerns einsteigen. Trotzdem werde ich ausgequetscht wie eine Zitrone.
Massenandrang gehört zum Wohnungsmarkt
Ich mache meinem Frust auf Facebook Luft und erfahre, dass es inzwischen normal ist, über 100 Bewerber für ein WG-Zimmer antanzen zu lassen. Einige Zimmersuchende würden inzwischen sogar schon Bewerbungsmappen einreichen.
Eine Bewerbungsmappe für ein verlebtes WG-Zimmer - wie soll die aussehen? Anschreiben, witzig, aber nicht unseriös, man will sich ja keinen Spinner ins Haus holen. Schönes Deckblatt mit Bild, Lebenslauf, einseitiges Motivationsschreiben. Gehaltsnachweis und, weil meiner kein Ruhmesblatt ist, den meiner Eltern gleich mit dazu, samt Bankbürgschaft. Beurteilungen, Zeugnisse, Referenzen meiner letzten Mitbewohner, Vermieter und Nachbarn dürfen auch nicht fehlen. Zudem noch zielgruppengerechtes Infomaterial, vielleicht für eine reine Mädchen-WGs eine Sammlung meiner Lieblings-Cupcake-Rezepte, gedruckt auf Lillifee-Briefpapier, und für die Herren der Schöpfung eine Fotostrecke, wie ich auf Highheels und in Strapse die Küche putze - nur kein falscher Stolz.
Tausend Ideen schweben mir vor und dann, der Geistesblitz! Ich gründe ein Assessmentcenter für WG-Suchende. Ich biete Workshops, wie Mann und Frau erfolgreiche Bewerbungen schreiben, und gebe Coachings zum sympathischen Auftreten beim Vorstellungsgespräch. Eine Dienstleistung, auf die die Welt gewartet hat. Auf dem heiß umkämpften Wohnungsmarkt werde ordentlich Umsatz machen. Und wenn der Laden läuft, baue ich mir ein Schloss. Und weil ich so ein gutes Herz habe, erlaube ich den schwervermittelbaren Zimmersuchenden gegen eine faire Miete unterm Dach zu wohnen. Aber nur, wenn sie mir als Mägde und Knechte rund um die Uhr zu Diensten sind.
Bis dahin brauche ich aber ein WG-Zimmer. Auf den erlösenden Anruf warte ich immer noch. Ich werde wohl selbst zum besten Kunden meines innovativen Start-Up-Unternehmens.
1 Kommentar verfügbar
Roland
am 20.03.2014Den Artikel halte ich für unterhaltsam.
Gesellschaftlich relevante und kritische Info`s, die das Thema durchaus birgt, kommen m.E. jedoch zu kurz bzw. gar nicht vor.
Konkret…