Die Kletterwand in der Halle des Deutschen Alpenvereins in Reutlingen hätte Frey früher mit Leichtigkeit bezwungen. Mitten unter den Sportlern, die sich mit Liegestützen, Klimmzügen oder Seilspringen aufwärmen, sitzt der 40-Jährige heute in seinem Rollstuhl. Von der Brust abwärts ist er gelähmt. Die Arme kann er bewegen und so schiebt er seinen Rollstuhl selbst durch den Trubel. Es riecht nach Schweiß, nach dampfenden Sportklamotten und muffigen Handtüchern. Frey schwitzt nicht, sein Körper reagiert seit dem Unfall weder auf Hitze noch auf Kälte.
Bis zu seinem Unfall lief sein Leben so, wie er sich das vorgestellt hatte: Mit seiner Freundin war er seit sieben Jahren liiert, sie lebten bereits in einer gemeinsamen Wohnung in Tübingen. Er freute sich morgens ans Gymnasium zu gehen, wo er Lehrer ist, und seinen Schüler Sport und Englisch beizubringen. Seine Freizeit war mit Sport verplant, am liebsten spielte er Basketball oder er kletterte. Es zog in raus in die Natur, in die Berge oder ans Meer zum Surfen. Als nächstes wäre wohl ein Kind gekommen. Er führte eine glückliche Beziehung, hatte einen Beruf, der ihm Freude machte und Hobbys, die ihn erfüllten. So hätte es weitergehen können.
"Basti" nennen die Jugendlichen ihren Klettertrainer. Seit etwa zehn Jahren zeigt er ihnen, wie sie an der Steilwand sichere Tritte und Griffe setzen. Vor seinem Umfall stieg er voraus, seit sechs Jahren erklärt er die Technik vom Rollstuhl aus. Obwohl er sitzt, fällt auf, wie groß der 40-Jährige ist — über 1,90 Meter. Auch seine Hände sind riesig. Sie benutzt er, wenn er als Trainer eigentlich etwas mit den Beinen demonstrieren müsste. "Die Füße überkreuzen" sagt er etwa und kreuzt die Hände. Die Rechte bewegt er flink, die Linke ist zusammengekrümmt, steif, ohne Gefühl, kaum bewegbar. Unter der Jeans zeichnen sich die dünnen Beine ab. Die Muskeln haben sich durch die fehlende Belastung stark abgebaut, die Knochen sind weich und porös geworden.
Wenn Frey mit seinen Kletterschülern Scherze macht, zieht sich ein freches Grinsen über sein Gesicht. Er ist ein Kumpel-Typ, aufgeschlossen. Als Trainer kennt er hier viele der Leute, grüßt sie freundschaftlich. Nichts ist ihm anzumerken, als Gelähmter an einem Ort, an dem alles in Bewegung ist. Niemand wundert sich über den Rollstuhlfahrer in der Kletterhalle, der nur zuschauen kann. Sebastian Frey lässt keinen Zweifel daran, dass er hierher gehört.
Alltägliches wird unmöglich
Kurz nach seinem Unfall ahnte Frey noch nicht, wie sich sein Leben verändern würde. Er wusste nicht, dass er in Zukunft sein Hemd nicht mehr alleine zuknöpfen kann. Oder Hilfe beim Binden der Schnürsenkel oder beim Öffnen einer Konservendose braucht. Er wusste auch nicht, dass er in der Schule erst ab der dritten Stunde unterrichten kann, weil es morgens zu lange dauert, bis sein Kreislauf in Schwung kommt. Dass er in Zukunft den Großteil seiner Kraft und Zeit darauf verwenden muss, den Alltag zu bewältigen.
Querschnittslähmung C5/C6 lautet die Diagnose. Das Rückenmark zwischen dem 5. und 6. Halswirbel ist vernarbt, es kann die Befehle des Gehirns an keine Nervenenden weiterleiten, die unterhalb der Verletzung liegen. Die Impulse dringen nur bis zu der Stelle in seinem Nacken vor, die heute von einer hellen, länglichen Narbe markiert ist. In Deutschland gibt es etwa 100 000 Querschnittsgelähmte, jährlich kommen ein- bis zweitausend dazu. Die meisten zwingen Unfälle in den Rollstuhl.
Frey musste nach dem verhängnisvollen Sprung ein neues Leben beginnen. Obwohl er noch in derselben Wohnung wohnt, denselben Job hat, sogar noch Sport unterrichten könnte, hat sich alles von Grund auf verändert. Seine Freundin hat ihn drei Jahre nach seinem Unfall verlassen, nach zehn Jahren Beziehung. Sie kam mit dem neuen Leben ihres Partners nicht zurecht. Statt Basketball und Klettern ist sein Sport heute Rollstuhlrugby. Dreimal die Woche hat er Termine beim Physiotherapeuten.
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