Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Nach jedem Anschlag ist die Öffentlichkeit zuerst schockiert und aufgewühlt. Das ist genau das Ziel: Den Menschen vor dem Fernseher soll die Angst in Mark und Knochen fahren. Nicht nur die Toten, sondern vor allem die Beobachter der Geschehnisse sind das Ziel des Terrors. Oft werden unmittelbar nach dem Anschlag falsche Beweise präsentiert und erlogene Geschichten erzählt, welche die Menschen bereitwillig schlucken, weil sie in einem emotionalen Ausnahmezustand sind und nicht mehr in Ruhe nachdenken können.
Können Sie das belegen?
Im italienischen Peteano starben 1972 drei Polizisten bei einem Terroranschlag, der sofort der extremen Linken in die Schuhe geschoben wurde. Doch die Beweise waren gefälscht. Der Sprengstoffexperte der italienischen Polizei, Marco Morin, hatte bewusst eine falsche Expertise erstellt und behauptet, der Peteano-Sprengstoff sei jener, den auch die linke Terrorgruppe Brigate Rosse verwende. Die Massenmedien folgten dieser Expertise blind, und dadurch wurden nicht nur die Brigate Rosse, sondern auch die italienischen Kommunisten und Sozialisten diskreditiert. Es dauerte zwölf Jahre, bis der italienische Untersuchungsrichter Felice Casson die Lüge aufdeckte. Er fand heraus, dass nicht die Linken, sondern der Rechtsextremist Vincenzo Vinciguerra den Anschlag verübt hatte. Er begründete seine "Strategie der Spannung" so: "Die Anschläge sollten die Menschen, das italienische Volk, dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten."
Bei einem anderen Terroranschlag habe ich verfolgt, wie Pässe gefälscht worden sind: Als 1985 der französische Geheimdienst in Neuseeland das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior mit einer Bombe versenkte, reisten zwei Agenten mit gefälschten Pässen als Schweizer Ehepaar Turenge ein. Die Schweiz hatte aber gar nichts mit dem Anschlag zu tun – Schweizer waren überhaupt nicht an Bord. Geheimdienste haben keinerlei Probleme damit, Pässe zu fälschen und damit falsche Fährten zu legen, das ist ein Kinderspiel.
Eine zunehmende Radikalisierung bestimmter Milieus ist aber nicht zu übersehen.
Natürlich gibt es eine Radikalisierung, wir stecken mitten in einer riesige Gewaltspirale, und das ist alles andere als gut. Aus ihr müssen wir herauskommen, aber das geht nur, wenn wir Konflikte ohne Gewalt lösen. Wir befreien uns daraus nicht, wenn wir noch mehr muslimische Länder angreifen oder bombardieren oder in den NATO-Ländern den Überwachungsstaat ausbauen. Wir müssen uns diese Gewaltspirale in aller Ruhe anschauen. Im Nordsudan hat der muslimische Präsident Baschir alle "Nicht-Muslime" als "giftiges Ungeziefer" bezeichnet, Christen werden brutal vertrieben und auch getötet. Das ist ein Element der Gewaltspirale.
Ein anderes ist aber auch die Folter der CIA, welche kürzlich aufgedeckt worden ist. Da gibt es aber auch noch den Krieg von Frankreich und anderen NATO-Ländern gegen Libyen 2011, der 30 000 Tote forderte, die meisten davon Muslime. Und den illegalen Angriffskrieg von Großbritannien und den USA gegen den Irak 2003, der mehr als 100 000 Tote forderte, die meisten davon Muslime. Derzeit stehen die Kämpfe in Syrien und in der Ukraine im Fokus. Jede daran beteiligte Gruppe – die Christen, die Muslime, die Juden, die Hindus, die Buddhisten, die Atheisten – sollte dabei über den je eigenen Beitrag zur Gewaltspirale selbstkritisch nachdenken. Erst dann erkennt man, dass alle zusammen den Kessel anheizen. Man muss den Balken im eigenen Auge sehen – und nicht nur den Splitter in dem des Fremden.
Derlei Selbstkritik wäre wünschenswert, ist aber kaum vorhanden.
Das stimmt nicht. Es gibt diese Selbstkritik, nur wird darüber viel zu wenig berichtet. Der US-Drohnenpilot Brandon Bryant hat kürzlich eine sehr bewegende Selbstreflexion durchgemacht. Er hat 1626 Menschen getötet, nicht mit der Hand, dem Messer oder Gewehr, sondern vor seinem Monitor. In einem Fall sah er, wie ein Opfer wegen einer offenen Beinarterie verblutete. Auch Kinder und Frauen sterben in Afghanistan und Pakistan bei Drohnenangriffen, die meisten davon sind Muslime. Diesen Teil der Gewaltspirale wollen viele in Europa nicht sehen. Bryant hinterfragte sein Tun und kündigte schließlich beim Pentagon. Darüber gab es einige Beiträge in den Medien, leider aber viel zu wenige, daher kennen viele nun zwar den Begriff "Charlie Hebdo", nicht aber den Namen Brandon Bryant.
18 Kommentare verfügbar
Alexander Meier
am 17.11.2015Er hat wichtiges zu sagen was man leider zu selten hört.