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Stuttgarter Pressehaus

Wut im Bauch

Stuttgarter Pressehaus: Wut im Bauch
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Immer deutlicher wird, wohin die "Stuttgarter Zeitungsnachrichten" steuern. Man muss dazu nur die Berichterstattung über Ricarda Lang lesen. Aber Achtung: Der Boulevard macht Menschen auch sauer.

Der Online-Auftritt der "Stuttgarter Zeitung" am Montag, 1. Februar, kurz vor Mitternacht: Unter der Rubrik "Unser Bestes" finden sich "Ricarda Lang, die Angegriffene", daneben "Die coolsten Neueröffnungen im Januar". Bei der grünen Politikerin gibt die Dachzeile ("Fat Shaming im Netz") die Richtung vor, beim "Stadtkind" werden "Vegane Donuts, Sextoys und Döner" versprochen. Die Handschrift der klickgetriebenen Digitalchefin Swantje Dake, 43,  ist unverkennbar. So sieht sie die Zukunft der StZN, so will es die Eigentümerin, die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH). Der Fokus sei auf "relevante Themen für unsere Kunden" zu legen, heißt es in ihrer Medienstrategie 2.0. Wir erinnern uns an "Liebe und Partnerschaft", das neue Feld.

In den Texten über die junge Grüne finden sich jetzt Sätze, die so über Peter Altmaier oder Sigmar Gabriel nie geschrieben worden wären. (Wieso wehren sich gestandene RedakteurInnen eigentlich nicht dagegen?) Aber nicht genug damit, es gilt, ihr Erscheinungsbild und seine öffentliche Wahrnehmung genau zu betrachten. Dieser Aufgabe widmet sich eine ebenfalls junge StZN-Journalistin. Sie stellt fest, dass viele dicke Menschen häufig "Hass und Beleidigung erfahren", so auch Ricarda Lang, und fragt sich, was hinter den Angriffen steckt – und was sie über diejenigen sagen, "die sie abfeuern".

Klasse Cliffhanger, das zieht rein in das vollempathische Stück, in dem psychologisches, psychotherapeutisches, soziologisches Personal zu Wort und zum Ergebnis kommt, dass die Attacken ein "Spiegelbild des Innenlebens" der Angreifer sind. So ist ein quasi objektiver Raum geschaffen, in dem gesagt werden kann, welche Beleidigungen im Netz ausgesprochen werden, wie verletzend das ist, und was die 28-jährige Nürtingerin in "Bunte" und "Bento" dazu geäußert hat. Im Gewand scheinbar neutraler Informationsvermittlung kommt hier ein Journalismus daher, der "echten Nutzwert" (Dake) haben soll und doch nur auf Affekte beim Publikum zielt. Das könnte man als entpolitisierte Personalisierung, aber auch als dreiste Mogelpackung bezeichnen.  

Baby Schimmerlos für die Restverblödung

In der Debatte um die Neuausrichtung des Pressehauses, die eigentlich nur eine verschärfte Fortsetzung des alten ist, wird dieser Sachverhalt deutlich. Während sich die Politik (wohl vergeblich) müht, der Geschäftsführung der SWMH klar zu machen, dass ihre Produkte demokratierelevant sind, haben viele LeserInnen den Glauben daran verloren. In den Kommentaren, die Kontext erreicht haben, kritisieren sie den "Boulevard bis zum Erbrechen", das Prinzip "Baby Schimmerlos", das für eine "Restverblödung" sorge, und prophezeien eine "Selbstzerstörung", die dem eigenen Unvermögen geschuldet sei. Der legendäre Herausgeber der "Stuttgarter Zeitung", Josef Eberle (1901–1986), ein überzeugter Demokrat und Antifaschist, würde sich in seinem Rottenburger Grab umdrehen. Auch dieser Hinweis darf nicht fehlen. Anregungen von LeserInnen hingegen, den Wandel als Chance, den "mutigen Schritt" zu loben und den digitalen Kanal nicht zu "verteufeln", sind stark in der Minderheit.

Besonders scharf schießt der Publizist Thomas Rothschild. Der einstige StZ-Autor bescheinigt dem Fusionsblatt ein "schmieriges Verständnis von Journalismus", eine Korruptheit "aus freien Stücken", eine "Hofberichterstattung von vorne bis hinten", und trifft damit den Ton von KollegInnen, insbesondere freien, die im Zuge des Niedergangs weggespart wurden. Ausgemustert nicht ohne Arroganz, Unverschämtheit und Opportunismus, auch von Zurückgebliebenen im Pressehaus. Dass hier das Mitleid noch spärlicher ausfällt, beziehungsweise einer gewissen Befriedigung weicht, ist auch ein Teil der Wahrheit.

Es sind etliche, die einst drinnen waren und jetzt draußen sind, die schreiben, mit Wut im Bauch, aber auch mit Trauer, oder verstört, wie einer, der seit Ende der 1990er drinnen ist. Warum so viel Dilettantismus?, fragt er. Die Süddeutsche kaufen, wenn das Ende der Papierzeitung absehbar ist? Das große Rad im Digitalen drehen wollen und Videos auf Schul-AG-Niveau produzieren? "Online-first" verkünden und ein Printprodukt abliefern, das fast 650 Euro im Jahr kostet und den Oberstudienräten die Tränen in die Augen treibt? Wegen der Fehler. Aus Verachtung all derjenigen, könnte man meinen, die nahezu alles finanzieren.  

Der Brief der Landräte ist ein Alarmzeichen

Am verstörendsten aber ist die offensichtliche Missachtung dessen, was den Kern der "Stuttgarter Zeitungsnachrichten" ausmacht: das Regionale und Lokale. Im Fokus stehe die "lokale Berichterstattung", behaupten die Medienstrategen 2.0, und sie sind stolz darauf, dass alle "relevanten Stakeholder" im Verbreitungsgebiet Redaktions- und Verkaufsleiter vor Ort antreffen könnten. Das mag nun gut sein für die Ansprüche von Daimler, Hengstenberg und Weru-Fenster, weniger für die Leserschaft, die auf ausgedünnte Redaktionen stößt und mit ihren Anliegen an ganz profanen Dingen scheitert. Keine Zeit, kein Nerv, keine Energie mehr. Dass die Stadtteilzeitungen eingestampft und schmalspurig ins Lokale gepresst werden – Schwamm drüber.

Ja, die Pressebänke sind spärlich besetzt. Schreiben die Landräte Roland Bernhard (Böblingen), Heinz Eininger (Esslingen), Edgar Wolff (Göppingen), Dietmar Allgaier (Ludwigsburg) und Richard Sigel (Rems-Murr) am 28. Januar 2022 an die Geschäftsführer Christian Wegner (SWMH) und Herbert Dachs (Medienholding Süd). Ihr Brief ist ein Alarmzeichen.

Die versammelten Fünf repräsentieren 2,148 Millionen Menschen, die, bis auf wenige Ausnahmen, am Monopolisten SWMH nicht vorbei kommen. Nur in Ludwigsburg, wo die "Kreiszeitung" als letztes gallisches Dorf sitzt, gibt es ein konzernunabhängiges Blatt. Umso größer, sagen die Landräte, sei die Verantwortung eines solchen Unternehmens, dem sie die Rolle einer "vierten Säule" zuordnen. Im Sinne einer Stunde Gemeinschaftskunde unterrichten sie die Manager davon, dass sich auf kommunaler Ebene entscheidet, was die BürgerInnen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld betrifft. Kindergarten, Schulen, Straßen, ÖPNV, Naturschutz und so weiter. Sie hätten allerdings den Eindruck, dass sich dieser Tatbestand in ihren Zeitungen nicht mehr widerspiegle, dass Kommunalpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung "immer mehr verschwindet" und Gefahr laufe, nicht mehr verstanden zu werden. Ihr Fazit: Wir brauchen einen starken Lokaljournalismus.

Wie weit ihre Überzeugungskraft reicht, dürfte freilich weniger von der Einsicht in diese Erkenntnis als von ihrer Monetarisierung abhängig sein. Das Kapital der Regionalblätter könnte doch die Kompetenz im Regionalen und Lokalen sein, ziemlich exklusiv vermarktbar, wenn man wollte. Aber das geht nicht mit einem Sparprogramm, das braucht diese "vierte Säule", die einst "vierte Gewalt" genannt wurde. Geschäftsführer wie Christian Wegner von der SWMH stehen allerdings eher auf Parship und Eso-Portale. Auf "Liebe und Partnerschaft" eben.


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5 Kommentare verfügbar

  • Thomas Rothschild
    am 08.02.2022
    Antworten
    Am Dienstag ging die folgende dpa-Meldung durch die Medienlandschaft, also auch durch die StZN: "Das Land Baden-Württemberg schafft die 3G-Zugangsregeln für den Einzelhandel in der derzeit geltenden Corona-Alarmstufe ab. Bisher hatten nur Geimpfte, Genesene oder Kunden mit einem aktuellen Test…
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