KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Wolfgang-Hofmeister-Ausstellung "Einige Sachen"

Erinnern als Widerstand

Wolfgang-Hofmeister-Ausstellung "Einige Sachen": Erinnern als Widerstand
|

Datum:

Der Nürtinger Künstler Wolfgang Hofmeister macht in seinen Arbeiten die unfassbaren Verbrechen der NS-Zeit fassbar. Seine Kunst stellt eine drängende Frage: Wie erinnern wir in einer Zeit, in der viele nach Ausgrenzung rufen?

Im Bürgersaal des Nürtinger Rathauses hängen Papiere von der Decke. Sie bewegen sich im Luftzug, leicht und fast tänzerisch – doch ihre Botschaft ist schwer. Es sind Strichlisten. Jeder Strich ein Menschenleben, ausgelöscht von den Nationalsozialisten im Vernichtungslager Treblinka. 780.000 Striche, 780.000 Opfer. Wolfgang Hofmeister verwandelt abstrakte Zahlen in sinnliche Erfahrung.

Genau darin liegt die Kraft seiner Kunst: Sie macht das Unfassbare fassbar. Hofmeisters Ausstellung "Einige Sachen", die auf Einladung der Nürtinger Gedenkinitiative zustande kam, ist ein fein gesponnenes Netz aus Verweisen, das Besucher einlädt, eigenständig Spuren zu erkunden – und dabei die Gegenwart mitzudenken. Denn seine Arbeiten stellen nicht nur die Frage, wie wir erinnern, sondern auch, warum wir es tun müssen.

"Ich wollte wissen, wie diese Zahl aussieht", sagt Hofmeister in Bezug auf die 780.000 Ermordeten. Die Zahl geht auf eine Angabe des Historikers Timothy Snyder zurück. Um sie fassbar zu machen, hat er diese zeichnerischen Exerzitien unternommen. Die erschlagende Quantität, die er als grafischen Kraftakt vor Augen stellt, steht in frappierendem Kontrast zur Kürze einer zweiten Liste: Gerade einmal 396 Tage benötigte die Todesmaschine von Treblinka, um all diese Menschen zu verschlingen. Die Diskrepanz wird sinnfällig, die Effizienz der industriellen Vernichtung wirkt erschütternd.

Kunst eröffnet empathische Zugänge

An einer Arbeit wie dieser zeigt sich, was ästhetische Strategien vermögen: Sie setzen Dinge in Beziehung, die in historischen Abhandlungen oft getrennt bleiben, sie wecken Empathie und emotionale Resonanz.

Den Holocaust zwischen Abstraktion und Konkretion auszuloten, hat künstlerische Tradition. Hofmeister reiht sich darin ein. Wie Gerhard Richter in seiner "Birkenau"-Serie (2014), wo Übermalungen den Blick auf fotografische Lagerszenen verstellen, vermeidet Hofmeister die direkte Abbildung des Grauens. Doch während Richter die Unmöglichkeit der Darstellung betont, beharrt Hofmeister auf der physischen Präsenz des Erinnerns. Seine kalligrafischen Strichlisten sind keine verunklarten Spuren, sondern raumgreifende Visualisierung. Sie begegnen uns als performative Handlung, die den Akt des Erinnerns selbst zum Thema macht.

Studiert hat Hofmeister bei René Straub und Harry Walter an der Freien Kunstschule in Nürtingen. Zwei "richtig kluge Köpfe", die ihm die Schnittstelle von Kunst und Erinnerungskultur eröffnet haben. Sein persönliches Schlüsselerlebnis liegt freilich noch weiter zurück. 1979 läuft eine Serie im bundesdeutschen TV, die breite Diskussion entfacht und das Schweigen bricht: "Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss". Hofmeister ist fünfzehn Jahre alt. "Das war unfassbar", erinnert er sich, "ich war persönlich betroffen – auch weil in meiner Familie nicht über die Vergangenheit gesprochen wurde."

Erinnerung wird zur Spurensuche

Umso mehr geht es Hofmeister darum, mit seiner Kunst die Betrachtenden zu aktivieren. Seine in Nürtingen ausgestellten "Sachen" sind dafür ein gutes Beispiel: Sie schalten dem Gedenken das Denken vor. Eine künstlerische Art zu denken, die selbst den bürokratischen Nebel lichtet, der die Opfer verhüllt und in dessen Zwielicht die Täter sich verbergen möchten. Auch Adolf Eichmann, einer der Hauptorganisatoren des Holocaust, wollte ja nur ein Zahnrad im Getriebe gewesen sein.

Blickt Hofmeister ins Archiv, verschalten sich Daten zu erhellenden Konstellationen: Die Seriennummer einer Lokomotive, die für Deportationen eingesetzt wurde, gleicht er mit der identischen Häftlingsnummer aus Auschwitz ab. Das öffnet den Blick auf eine Person: Josette Brener – auf einmal ist sie da, nicht als Nummer, sondern als Mensch mit Namen und Gesicht. "Sie musste vielleicht sogar ihr eigenes Fahrgeld in den Tod bezahlen", erzählt Hofmeister.

Diese Form der künstlerischen Spurensuche steht im Wechselspiel mit den Verdiensten der Nürtinger Gedenkinitiative für Opfer und Leidtragende des Nationalsozialismus. Über Jahrzehnte hinweg hat das ehrenamtliche Netzwerk Biografien rekonstruiert: von politisch Verfolgten, psychisch Kranken, von Zwangsarbeitern und Menschen, die aus rassistischen Gründen entrechtet wurden. Hofmeister gibt ihnen Sichtbarkeit. Ihre Geschichten platziert er in den Fenstern des Bürgersaals – und hebt sie ins Bewusstsein der Gesellschaft, ins Licht der Erinnerung.

"Leidkultur": eine verpasste Chance

Wolfgang Hofmeister blickt nicht nur zurück. Seine Arbeiten fragen auch: Was bedeutet Erinnerung heute? Und: Wie erinnern wir, wenn sich politische Diskurse erneut ins Menschenverachtende verschieben? Ein Beispiel: die Aussage des CDU-Politikers Carsten Linnemann, es brauche Register für "psychisch kranke Gewalttäter" – eine Formulierung, die nicht nur sprachlich, sondern auch erinnerungspolitisch problematisch ist.

Hofmeister macht sie zum Exponat, gerahmt hinter Glas. Als Teil der Ausstellung steht sie im Kontext der sogenannten Euthanasie-Verbrechen, deren Opfer lange aus dem deutschen Gedenken ausgeschlossen waren. Denn auch eine historische Studie zur "geheimen Reichssache Grafeneck" zählt zu Hofmeister "Sachen". "Das könnte auf die Gefahren hinweisen, die geschichtsvergessene Forderungen von Politikern in sich tragen", sagt der Künstler. In Grafeneck ermordeten die Nationalsozialisten über 10.000 geistig behinderte und psychisch kranke Menschen – ein Probelauf für den Holocaust.

Hofmeister lässt das keine Ruhe: Eigenhändig beginnt er, ein Standardwerk zur Psychodynamik abzuschreiben. Seite für Seite, Wort für Wort. Das Exponat erinnert an eine antike Schriftrolle. Wie er dazu kam? "Psychodynamische Prozesse", sagt Hofmeister, "sind notwendig, um Faschismus zu verstehen." Denn autoritäre Bewegungen nähren sich von unbewussten Ängsten, gerade in gesellschaftlichen Krisen. Deswegen bleibt die Abschrift auch, ganz bewusst, Fragment – denn stets kann das Wissen ums menschliche Innere auch in falsche Hände fallen.

Der Rückgriff auf psychologische Tiefenstrukturen ist ein kluger Kunstgriff: Erinnerung begreift Hofmeister nicht nur als Datenspeicher, sondern als gelebten Wesenszug: mental, politisch und kulturell. In diesem Zusammenhang entwickelt er die Idee einer "Leidkultur" – in bewusster Abgrenzung zur heiß diskutierten "Leitkultur".

Während letztere vorgibt, normative Werte zu definieren, richtet sich erstere auf das, was Gesellschaften erschüttert: das Leid, das Menschen einander zufügen. Dieses aber gelte es nicht zu verdrängen, sondern zu thematisieren und gesellschaftliches Bewusstsein daran zu bilden. Für Hofmeister wäre eine solche Leidkultur eine heilende Geste gewesen, eine therapeutische Maßnahme gegen das große Verschweigen der Nachkriegszeit – und ein dringend nötiger Resonanzraum in der Gegenwart.

"Der Freiheit eine Gasse"

Für seine Themen findet Hofmeister ganz unterschiedliche künstlerische Formen. Eindrücklich sind seine Buchobjekte. In sorgsam verschnürten, teils versiegelten Paketen treten sie in Erscheinung: als Mahnung, als greifbare Träger von Wissen. "Dem Internet kann man den Stecker ziehen", sagt Hofmeister, "aber Bücher sind schwer auszulöschen." Auch deshalb verbrennen Diktaturen Bücher.

Seine zentrale Installation in der Nürtinger Ausstellung ist einer Baracke nachempfunden. Eine Kippfigur: die Baracke als Ort des Grauens – aber auch als Ort des Widerstands, der Aufklärung, der Hoffnung. Im Bretterboden verborgen sind Bücher, säuberlich verpackt. Und mittendrin ein Appell des Dichters und Revolutionärs Georg Herwegh: "Der Freiheit eine Gasse". Der Vormärz-Slogan ist aktuell: Freiheit muss erkämpft und verteidigt werden. Arbeiten wie diese zeigen, dass Kunst ein Ort der Selbstvergewisserung sein kann, der kritischen Reflexion, des demokratischen Bewusstseins. Sie machen deutlich: Erinnern ist kein abgeschlossener Akt. Es ist eine Praxis – täglich neu.

Gegenwartsdiagnose: Sprache als Waffe

Nicht zuletzt will Hofmeister für den politischen Kampf um die Sprache sensibilisieren. Die "Grenzen des Sagbaren" sind längst zum politischen Terrain geworden. Rechte Ideologen versuchen, Sprache zu instrumentalisieren, sie umzudeuten, neu zu besetzen. Der Künstler verweist in diesem Zusammenhang auf Victor Klemperers berühmte Analyse der NS-Sprache ("LTI. Notizbuch eines Philologen") – und erkennt darin eine Warnung für die Gegenwart.

Wenn Sprache zur Waffe wird, ist Kunst ein mögliches Gegengift. Hat es also Sinn, mit ästhetischen Strategien gegen den wieder erstarkenden Ungeist anzugehen? "Ich glaube, das sind die einzigen Strategien, die überhaupt etwas bewirken", sagt Hofmeister. Und das ist keine Floskel. Es ist das Credo eines Künstlers, der sein eigenes Tun nicht heroisch verklärt, aber als wirksam erachtet. Als einen Anstoß zur Courage. Denn: "Wenn es so weitergeht, wird sich Mut daran zeigen, ob noch jemand ausstellt, was ich mache."

Die Nürtinger Werkschau zeigt, dass es so weit noch nicht ist. Doch behaglich ist sie nicht. Sie verlangt den Besucherinnen und Besuchern etwas ab: Aufmerksamkeit, Empathie und die Bereitschaft, sich auf unbequeme Gedanken einzulassen. Und genau darin liegt ihre Stärke. In einer Zeit, in der rechte Rhetorik salonfähig wird und Erinnerungskultur zur Pflichtveranstaltung verkommt, zeigt Hofmeister, wie Kunst Brücken schlagen kann: zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Zahlen und Schicksalen, zwischen Betroffenheit und Handeln. Wer die Ausstellung besucht, wird nicht unverändert herausgehen. Und das ist vielleicht das größte Kompliment, das man dieser Kunst machen kann.


Die Ausstellung "Einige Sachen" von Wolfgang Hofmeister ist noch bis 16. September im Bürgersaal Nürtingen, Markstraße 7, zu sehen. Öffnungszeiten: Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 7.30 bis 12 Uhr, außerdem Dienstag 14 bis 17 Uhr und Donnerstag 14 bis 18 Uhr. Mittwoch, Samstag und Sonntag geschlossen.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!