Der Pedaleur will seinen Holundersaft unbedingt draußen trinken. Neben seinem Rennrad. Drinnen, im Kaffeehaus "Ranitzky" am Tübinger Marktplatz, bliebe ihm der Blick auf das kostbare Stück verwehrt, wäre der Gegenstand jener Besessenheit unbeaufsichtigt, mit der er den Grand Ballon in den Vogesen, 1.424 Meter, hochkeucht. In seinem Roman "Im Feld – Roman einer Obsession" (2018) beschreibt er diese Tortur. Autofiktional.
Joachim Zelter sieht aber auch so aus, als könnte er das. Hager, asketisch, windschnittige Nase. Wenn er in Stuttgart einen Termin hat, fährt er mit dem Pedelec über die Dörfer und ist oft schneller als der Zug. Am 26. August hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert.
Der Tübinger Schriftsteller sitzt genau an der Stelle, an der Helmut Palmer einst seine Kundschaft belehrt hat. Hier stand der Remstäler Obsthändler mit seinem Lkw, hat Zwetschgen verkauft und jeden angepflaumt, der mit einer Plastiktüte statt einem Korb angekommen ist. Das war vor 40 Jahren und mehr. Heute residiert sein Sohn Boris im Rathaus gegenüber und zeigt dem gemeinen Volk, was eine intellektuelle Harke ist. Gerne auch in Flüchtlingsfragen.
In der Fiktion liegt die Wahrheit
Darauf reagiert Zelter besonders empfindlich, weil der Mann seiner Schwester Pakistaner ist und stets in Gefahr war, abgeschoben zu werden, was dann auch geschah. Zelter hält Palmer junior für eine Person von "narzisstischer Grandiosität", und empfiehlt Alice Miller: "Das Drama des begabten Kindes". Dann doch lieber die örtliche SPD unterstützen, die es geschafft hat, seinen Schwager wieder zurückzuholen. Dieses Lehrstück unbarmherziger Bürokratie, das Packenmüssen innerhalb von fünf Minuten, hat er in dem Roman "Die Verabschiebung" (2021) festgehalten. Er nennt es eine Fiktion, in der die Wahrheit liegt. So gesehen ist er auch ein politischer Schriftsteller, Heinrich Böll und Wolfgang Borchert gehören zu seinen Vorbildern.
Sein Vater war Gefängnisdirektor in Schwäbisch Hall, ein Reformer, der die Jugendlichen ohne Gitter hinter Mauern haben wollte. Der Sohn kann keine Heldengeschichten. Das geht nicht mit dem kritischen Blick auf eine neoliberale Gesellschaft, die ihn zu zwingen scheint, die Menschen literarisch in den Eskapismus zu schreiben. Heute müsse man ein Bejaher sein, sagt er, glauben, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Zelter hält es mit den Verlierern, und wenn sie auch noch so wichtig tun, sind sie es am Ende doch.
Claus Urspring ist so einer. "Der Ministerpräsident". So heißt auch das 2012 erschienene Buch, in dem der überaus bedeutende CDU-Politiker nach einem Autounfall in der Schwarzwaldklinik aus dem Koma erwacht und erzählt bekommt, es sei etwas in seinem Kopf passiert. Er sagt immer "Umfall" statt Unfall und wundert sich, dass er unbedingt Fahrrad fahren soll. Es sei wegen der Bilder für den Wahlkampf, womöglich könne er mit dem Rad zum Rednerpult rollen, raten die Berater. Hinken wäre schlecht. Was sollen die Leute denken, wenn der Landesvater am Krückstock ginge? Der "Ministerpräsident" ist eine bitterböse Satire auf den Politikbetrieb, die als Groteske endete, würde sie der Wahrheit nicht bedenklich nahe rücken. Er sei ein weltimmanenter Autor, erläutert Zelter, wenn es zum Weinen nicht reiche, müsse gelacht werden. Grundstimmung Melancholie.
Zelter sagt, eigentlich sei er Marxist
Sein Verleger ist auch gekommen. Hubert Klöpfer, zu Fuß und drinnen. Mit seinen 70 kann er immer noch nicht die Finger von Büchern lassen, seit 2021 bringt er seine Edition im Stuttgarter Alfred Kröner Verlag heraus, und Zelter ist natürlich dabei, wie schon 25 Jahre zuvor. Klöpfer mag ihn, auch weil er nicht gefällig ist, weil er die Moden der Moderne nicht mitmacht, seine Figuren nicht so ausschmückt, dass einem das Herz aufgeht (oder zu). Sie sind nicht hinreißend, heldenhaft oder wenigstens unterhaltsam. Sie sind Typen, geprägt von Strukturen, die Zwang ausüben. Das ist sein soziologischer Blick. So gesehen sei er eigentlich Marxist, sagt Zelter, das Sein bestimme nun mal das Bewusstsein.
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Gisela Merker
am 15.09.2022