In Hamburg gehört Helmut Heißenbüttels Werk schon zum Stadtbild. Dort bestehen die Wände des Deserteurs-Denkmals hinter dem Bahnhof Dammtor aus Teilen seiner Text-Collage "Deutschland 1944", in Bronze gegossen. In Stuttgart, wo der am 21. Juni 1921 in Wilhelmshaven geborene Autor lange lebte und Spuren hinterließ, gibt es etwas Entsprechendes noch nicht – bald aber zumindest eine temporäre Installation im öffentlichen Raum: Anlässlich von Heißenbüttels 100. Geburtstag hat der Lyriker Ulf Stolterfoht in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus zwei Wanderwege in Stuttgart mit Hörstationen konzipiert. An insgesamt 26 Punkten sind per QR-Code Gedichte Heißenbüttels mit Bezug zum jeweiligen Ort zu hören, drei Monate lang, vom 26. Juni bis zum 26. September.
Was die Erinnerung an ihn angeht, dürfte Heißenbüttel heute zwar weit weniger präsent sein als manch anderer Autor der "Gruppe 47", der er angehörte. Dennoch war er als einer der wichtigsten Autoren experimenteller Literatur im Nachkriegsdeutschland bekannt. Er veröffentlichte ab der ersten Hälfte der 1950er Jahre Gedichte oder ganz profan "Texte" genannte Formate, die er nach in der bildenden Kunst angewandten Prinzipien wie Collage, Montage oder Serie anfertigte. Mit klassischen Erzählformen hatte das nichts zu tun, oft mehr mit Zufall. Ausschnitte aus alten Wehrmachtsberichten und andere Zeitdokumente etwa montierte er zu seinem Gedicht "Deutschland 1944". Indem er erzählerische und formale Konventionen über Bord warf, versuchte Heißenbüttel auch, sich von der NS-Zeit und vom als bleiern empfundenen Adenauer-Konservatismus der Jahre danach abzusetzen.
Bekannter wurde Heißenbüttel vermutlich als Radio-Macher, als Rundfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Stuttgart. Ab 1957 war er Mitarbeiter der von Alfred Andersch gegründeten Reihe "Radio-Essay", ab 1959 war er deren Leiter und blieb es bis zu seinem Ruhestand 1981. Unter Heißenbüttel wurde die Reihe zum kulturellen Experimentierfeld, widmete sich der Vermittlung neuer Literatur, Philosophie, Kunst oder Musik, etablierte mit experimentellen Hörspielen und Radio-Collagen auch selbst neue Formen. Aus den 1960ern, den für ihn "goldenen Jahren des Rundfunks", dürfte er wohl auch noch einigen StuttgarterInnen in Erinnerung sein. Denn sein Bemühen um Vermittlung neuer Kunstformen traf auf ein gesellschaftliches Klima, das schließlich in die 68er-Bewegung mündete.
An Heißenbüttels vielschichtiges Werk erinnert nun am Samstag, dem 26. Juni, eine "Geburtstagssause" im Stuttgarter Literaturhaus. Von 16:30 bis 21:30 Uhr widmen sich in fünf Blöcken unter anderem Uwe Timm, Zsuszanna Gahse und Ulf Stolterfoht Heißenbüttels Texten, Gedichten, seiner Radio-Arbeit und – seinen Playlists. Denn Heißenbüttel war auch ein begeisterter Plattensammler unterschiedlichster Genres. Die Hörstationen in der Stadt haben zudem einen engen Bezug zum Werk des Geburtstagskinds. Denn Heißenbüttel war nicht nur leidenschaftlicher Spaziergänger, er schrieb auch darüber – unter anderem für das Reisemagazin "Merian", in dessen Stuttgart-Ausgabe 1961 sein Text "Eindrücke und Einsichten" erschien. Seine Beobachtungen von damals mit dem heutigen Stuttgart zu vergleichen, ist ein besonderes Vergnügen. Weswegen Kontext den Essay als Geburtstagsgruß in voller Länge neu veröffentlicht.
Eindrücke und Einsichten
Von Helmut Heißenbüttel (erstmals erschienen in Merian Stuttgart 1961)
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