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"Years & Years"

Krise, immer Krise!

"Years & Years": Krise, immer Krise!
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Die BBC-Serie "Years & Years" geht von unserer Gegenwart aus und erzählt in die nahe Zukunft hinein. Das große Weltgeschehen wird heruntergebrochen auf das Schicksal der Familie Lyons. Besser: Es explodiert inmitten einer Familienserie.

Trump hat die Wahl gewonnen, in seiner zweiten Amtszeit feuert er eine Atomrakete auf eine chinesische Insel ab. Weltweit heulen die Sirenen auf. In Manchester verfolgt Familie Lyons die deprimierenden Nachrichten. Die Apokalypse droht – und die englische Serie "Years & Years" könnte schon nach der ersten Folge am Ende sein. Aber es geht natürlich weiter in diesem von BBC und HBO produzierten Sechsteiler, der im Mai 2019 mit einem Talkshow-Auftritt der populistischen Geschäftsfrau Vivienne Rook (Emma Thompson) beginnt und nun bis ins Jahr 2029 nicht nur deren Aufstieg zum Polit-Star verfolgt, sondern auch und vor allem von den Lyons' erzählt.

Als "episches Drama", das sich dem Schicksal einer Familie in Zeiten von "instabilem politischem, ökonomischem und technologischem Fortschritt" widmet, so hat die BBC diese von Russell T. Davies ("Dr. Who") geschriebene Serie angekündigt. Wobei das Wort "episch" sich wohl nur auf den langen Zeitraum beziehen kann, nicht aber auf die Erzählweise. Denn in "Years & Years" strömen die Jahre nicht breit dahin, sie ballen sich zusammen und rucken dann schnell und fast gewalttätig voran. Nein, hier gibt es keine Zeit zum Atemholen, hier geht alles Schlag auf Schlag! Wobei die großen Themen oft nur als Nachrichten im Hintergrund vorbeisausen – die Queen ist tot, die Russen machen Ärger, Städte werden überschwemmt –, aber vieles sich dann doch auswirkt auf das Kleine. Was in diesem Fall heißt: auf die Mitglieder der Familie Lyons.

Wobei "Years & Years" die Politik, die Ökonomie und die Technologie nicht nur herunterbricht auf das Private, sondern mit voller Wucht in einer Familienserie explodieren lässt. Die Lyons-Sippe aber will dabei nicht Opfer sein, verkriecht sich also nicht in Passivität. Der drohende Weltuntergang zum Beispiel führt dazu, dass der schwule Sohn Daniel (Russell Tovey) endlich seinen Partner verlässt und sich zum ukrainischen Flüchtling Viktor (Maxim Baldry) bekennt. Und die älteste Tochter Edith (Jessica Hynes) ist sowieso eine radikale Aktivistin, sie war beim Atomschlag vor Ort, hat ihn per Drohne gefilmt und die Bilder weltweit verbreitet. Was aber auch bedeutet: Sie wurde verstrahlt und hat nur noch etwa zehn Jahr zu leben.

Rosie (Ruth Madeley), jüngstes der vier Lyons-Geschwister und alleinerziehende Mutter, ist trotz ihrer Spina-bifida-Behinderung voller Tatendrang und erledigt ihre Arbeit in einer Schulkantine im Rollstuhl. Ihr Bruder Stephen (Rory Kinnear) hat es als Finanzberater zu beträchtlichem Wohlstand gebracht, er ist mit der schwarzen Buchhalterin Celeste (T'Nia Miller) verheiratet und hat zwei Töchter, von denen eine sich gern von ihrem Körper befreien und in eine transhumane Existenz operieren ließe. Und dann ist da noch die Großmutter Muriel (Anne Reid), die nun allein in einem großen, aber ein bisschen heruntergekommenen Haus lebt, das ihre Kinder nur noch zu besonderen Gelegenheiten, etwa an ihrem Geburtstag, besuchen. Es sieht zunächst so aus, als wäre sie in diesem neuen England abgehängt und aus der Zeit gefallen, auch wenn sie sich nach und nach an ihren digital-akustischen Helfer Signor gewöhnt, einer Art Pendant zu Amazons Alexa.

Keine Dystopie, obwohl es ums Überleben geht

Irgendwelche neueren Themen, Entwicklungen und Probleme, die in "Years & Years" nicht auftauchen? Tatsächlich hat Russell T. Davies so viel in seine Erzählung hineingepackt, dass diese Gefahr läuft, zu forciert und zu schematisch zu wirken. Aber Davies schafft es letztlich doch, dass seine Personen nicht nur repräsentative "Problemträger" sind, sondern auch lebendige Individuen werden. Dabei hilft, wie so oft in britischen Produktionen, ein Ensemble exzellenter SchauspielerInnen. So pumpt sich die Serie selbstbewusst und kraftvoll durch die Jahre und koppelt dabei die Emotionalität von Familiendramen wie "This is us" mit der dystopischen Düsternis von Science-Fiction-Serien wie "Black Mirror". Und wenn man sieht, was auf die Lyons alles zukommt, müsste am Ende ja auch hier der Pessimismus alles überschwemmen.

Krise, immer ist hier Krise! Rosie wird arbeitslos, weil sich das Essen jetzt selber zubereiten kann, auch Celestes Stelle wird digital wegrationalisiert, und Stephen verliert bei einem Börsencrash sein Vermögen, so dass er nun als Fahrradkurier durch Manchesters Straßen strampelt und auch noch Häme aushalten muss: der Mann, der eine Million verloren hat! Viktor wird nun von Daniels eifersüchtigem Ex-Mann denunziert und in sein diktatorisches Heimatland abgeschoben, Daniel reist ihm nach und versucht alles, um ihn zurückzuholen. Was dazu führt, dass sich beide irgendwann ohne Papiere auf der anderen Seite des Ärmelkanals finden, wo sie in ein überladenes Schlauchboot steigen. Vivienne Rook gründet inzwischen die 4-Star-Party.

Und von einer am Schwarzmarkt ausgehandelten Transhumanismus-OP oder Stephens Seitensprüngen war noch gar nicht die Rede! Die geordnete Welt der Lyons jedenfalls bricht zusammen, das Leben wird immer mehr zum Überleben. Aber auch wenn diese Menschen nicht immer die Guten sind und sie sich manchmal nicht ausstehen können, vereint sie doch eine Art von Familiensolidarität. Und die drückt sich auch darin aus, dass das alte Haus der Großmutter in der Not zum Refugium wird. Wenn die Geschwister (mit oder ohne ihre Familien) wieder hier einziehen, dann ist das einerseits ein Scheitern, andererseits aber auch ein kleiner Sieg des alten England. Großmutter ist doch die Beste, sie wird auch eine Ansprache halten, die zur Rückbesinnung auf traditionell-humane Werte auffordert, eine Ansprache, die sich allerdings nicht nur nach einer individuellen Äußerung anhört, sondern so, als benutze der Autor Davies an dieser Stelle ein Sprachrohr, um den moralischen Kern seiner Serie zu vermitteln.

Solch pathetische Momente aber sind die Ausnahme, ansonsten drängt die Handlung immer voran. Im Jahr 2027, in dem die USA aus der UNO austreten, wird Vivienne Rook Premierministerin, lässt Gegner verhaften und neue Lager für Flüchtlinge errichten, so dass schließlich auch Rosie, die lange Sympathien für Rooks Partei hatte, sich von dieser Politikerin abwendet. Im Jahr 2029, in dem die BBC geschlossen wird, da ... Nein, hier wird jetzt nicht mehr weitererzählt. Nur noch soviel: Die Serie und vor allem ihre Lyons-Protagonisten sträuben sich dagegen, in der Dystopie zu ertrinken. Auch wenn hier sogar noch das ausbricht, was "Years & Years" zunächst nicht vorhergesagt hat, nämlich eine "Affengrippe" genannte Pandemie, gibt es doch und immer mal wieder ein kleines bisschen Trost. Auch wenn der manchmal nur darin besteht, dass die Großmutter fragt: "Tee?"


Russell T. Davies' "Years & Years" läuft bei einigen Streamingdiensten und ist auch als DVD und Bluray erhältlich.


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