KONTEXT:Wochenzeitung
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Vorhang auf

Vorhang auf
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Eine Gruppe von Menschen wird von Corona besonders hart getroffen. Nicht, weil sie besonders gefährdet ist, sondern weil das Virus droht, sie in den Ruin zu treiben. Es sind die freien Kulturschaffenden, die keine Bühne mehr haben. Wir bieten ihnen jeden Tag eine virtuelle. In Folge 24 unserer Serie geht der "Vorhang auf" für Matthias Becher!

Der Spätzlehobel am Tatort lockt die Polizei auf eine falsche Fährte. Denn in Wahrheit arbeitet der Stuttgarter Gentrifizierungskiller in einer Maultaschenfabrik.

"Gesellschaftskritische Texte im Poetry Slam: Schön und gut. Aber Hand aufs Herz: Geht ihr öfter zu Literaturveranstaltungen oder schaut ihr lieber Tatort?", fragt Matthias Becher in dem Beitrag, den er für unsere Vorhang-auf-Serie bereitgestellt hat. Als Mitveranstalter des Stuttgarter Lit.Fests, das jungen Autorinnen, Lyrikern und Kulturbegeisterten eine Bühne bietet, weiß er, wie schwer es ist, von Literatur zu leben.

Solange Corona die Welt in Atem hält und die Bühnen, Ausstellungen und Konzertsäle im Land geschlossen sind, gibt es jeden Tag eine neue Folge des Kontext-Vorhangs. Alle Folgen der vergangenen Wochen sind hier zu finden.

Wer mit seiner Kunst viele Menschen erreichen will, muss sie massentauglich gestalten – etwa in Form einer "absatzstarken Heimatmeuchelei" mit einer Menge Lokalkolorit, soziopolitischen Kontroversen und, natürlich, vielen, vielen Abgründen und Sexszenen. Und abgründigen Sexszenen. Wer könnte da einen passenderen Protagonisten abgeben als ein unterbezahlter Fließbandarbeiter, der zum Mörder wird, um endlich etwas gegen die horrenden Mietpreise in seinem Viertel zu tun? Das ist "fies, aber doch irgendwie Robin-Hood-mäßig", führt Becher aus.

Wichtig ist ihm, zu betonen: "Ich will niemanden beleidigen." Wenn er sich über Lokalkrimis lustig macht, "ist das eher ein bisschen Neid". Als Literaturwissenschaftler und Autor beobachtet Becher, Jahrgang 1988, dass fast alle jungen Autorinnen und Autoren, die vom Texten leben wollen, irgendwann einen Roman schreiben, auch dann, wenn sie eigentlich Poeten sind. "Und es ist trotzdem noch schwierig, daran etwas zu verdienen."

Das Lit.Fest, das seit 2015 einmal pro Sommer stattfindet, soll da ein kleines Gegengewicht sein,  "einen Raum zum Austausch schaffen und Stuttgart als einen Fixpunkt der Literaturlandschaft in Deutschland stärken", wie es in der Selbstbeschreibung heißt. Noch unentdeckte Autorinnen und Autoren können sich um einen Auftritt bewerben, "schickt uns eure gelungensten Texte, denkt nicht an thematische Vorgaben, sorgt euch nicht um Formatvorlagen", ermuntert der entsprechende Aufruf dazu. Deklamiert wird dabei im Freien, "auf einer malerisch gelegenen Bühne über der Stadt".

Noch ist das Lit.Fest 2020 nicht abgesagt, noch ist ja nicht klar, was als Großveranstaltungen gilt. Wenn die Corona-Maßnahmen es zulassen, sollten ortskundige Stuttgarter etwas mit der Adresse Doggenburgstr. 17 anfangen können.

Virtuelle Bühne bei Kontext

Weil Corona den Kulturschaffenden ihre Bühnen nimmt, wollen wir als Medium eine virtuelle bieten. Wenn wir es schaffen, wechseln wir täglich die Stücke, damit möglichst viele ihren Auftritt bekommen. Den Auftakttext zum Projekt gibt es hier nachzulesen. Spenden bitte direkt an die KünstlerInnen.

Folge 23: Vorhang auf für Kerstin Schaefer!

 

Sonntag, 19. April 2020

"SUPER IDEE!" schreibt uns Kerstin Schaefer zu ihrer "kleinen und frohen Bewerbung", und schöner als sie selbst kann man es gar nicht ausdrücken: "Sehr gerne würde ich Euer Angebot annehmen und sende Euch hier mein für Euch & die Welt produziertes kleines Video 'K-Strassen von Stuttgart' – von Kapp über Kapuziner bis Kreisau ist alles dabei." Als "Malerin, Zeichnerin (ad-hoc-Kalligrafien) und Performerin", wie sich die Künstlerin selbst beschreibt, "ist das mein erstes digital selbst produziertes, dreispuriges und angenehm absurdes Video. Wenn´s Euch auch zum Lachen bringt oder zum Weinen, meldet Euch!" und: "Wenn Ihr Fragen habt erreicht Ihr mich (ha, ha, ja) jederzeit Zuhause derzeit."

Es ist Kerstin Schaefers erstes Video, aber "Übergreifendes künstlerisches Arbeiten" war schon ihr Fach als Meisterschülerin an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. In Lörrach geboren, kam sie nach ihrem Studium auf dem Umweg über New York nach Stuttgart. Und wie kommt man vom Malen zum Video? Genau, indem man sich beim Malen filmt. Und damit das Video nicht stumm bleibt – nein, bitte nicht irgendeine Musik oder irgendwelche Erläuterungen – warum nicht einfach die Stuttgarter Straßennamen mit K? K wie Kontext? Oder wie Kerstin? "Oft arbeitet sie mit vorgefundenen Dingen", so Schaefer in einer Beschreibung ihrer eigenen Arbeit, "die sie remodelliert, übermalt, zerstört und überarbeitet und so in ihre Vorstellung von Gegenwärtigkeit versetzt."

"Freiheit", lautet das erste Stichwort zu den Themenkreisen, die sie beschäftigen. Sie ist Mitbegründerin der "Freien Unabhängigen Künstlerinnen Stuttgart" (FUKS), mit oder ohne Sternchen, denn dass die aus dem Stuttgarter Kulturdialog 2010 hervorgegangene Künstler*innengruppe im Kern derzeit aus fünf Frauen besteht, hat nichts mit feministischer Abgrenzung zu tun: Männer waren dabei und sind weiter willkommen. FUKS hatten ab Anfang Februar eine Ausstellung im Alten Schloss, die dann vorzeitig abgebrochen wurde. Eine weitere Ausstellung im Kunstverein Neuhausen, zu der Schaefer eingeladen war, wurde gar nicht erst eröffnet. Sie hat eine halbe Stelle als Kulturagentin in Göppingen – das bedeutet Arbeit an Schulen – aber das Gehalt langt gerade mal für die Miete.

FUKS ist ursprünglich mit drei Forderungen an die Öffentlichkeit getreten: bezahlbare Räume für KünstlerInnen; die Stadt solle sich zur Wertschätzung und Förderung der freien Kunstszene verpflichten. Und bei Künstlerhonoraren ein Vorbild sein. Mittlerweile geht es den Künstlerinnen aber mehr um die Kunst selbst: "FUKS fungiert u.a. als Kunst- und Ideenlieferant für Stuttgart und mehr", so die Selbstbeschreibung, "als Generator für wichtige und konstruktive Ideen in Sachen Kunst, als Multiplikator, als vielköpfiger Kunst-Themenscout …" – und so geht es weiter, eine Liste so lang wie die der Straßennamen mit K.

Kerstin Schaefers Video mag ihr erstes sein, es ist aber nicht ihr letztes. Gleich nach dem Telefonat, in dem sie noch viel mehr erzählt, bricht sie auf zum Treffpunkt Rotebühlplatz, wo sie an der Ausstellung "Körperbilder" beteiligt ist, die am 23. April eröffnet: nein, nicht wie geplant in der realen VHS-Kunstgalerie, sondern online. "Das Projekt 'Körperbilder'", so das Konzept der Ausstellung, "sieht vor, dass alle Ausstellenden ihre Exponate am eigenen Körper tragen. Kerstin Schaefer wird als "TASCHENMENSCH" die langen Treppen herabsteigen – nun eben mit Hilfe des Filmemachers Stefan Adam im Video. 

Web: www.kerstinschaefer.com

Folge 22: Vorhang auf für die Vampire Cats!


Freitag, 17. April 2020

"Wie ein backfrisches Croissant", schreibt Sabrina Schray per Mail und schickt den Link zum brandneuen Musik-Video "Control": Zwei Omas, die sich vor corona-leerer Kulisse gegenseitig Einkaufstaschen über die Rübe hauen, wie in einem Videospiel, und dabei Tiger- und Himbeer-Punkte sammeln. "Bisschen Humor auf die Straße bringen", sagt Sabrina Schray, gerade jetzt, das wollen die "Vampire Cats". Eine "Mädels-Gang noch von damals sozusagen", denn die vier Frauen aus Stuttgart, alle Mitte 30, sind seit mehr als 15 Jahren befreundet.

Bisher haben Sabrina Schray, Surja Ahmed, Jessy Lipp und Kristina Arlekinova vor allem Jam-Sessions zusammen gespielt, bereits viele Jahre lang. Sie haben Theaterstücke zusammen aufgeführt, Texte geschrieben, Performances performt, immer im antikapitalistischen, feministischen Sinne und mit einem Blick auf diejenigen, denen es nicht so gut geht – hier bei uns und auf der ganzen Welt. Das "Ungleichgewicht der Gesellschaft" bearbeiten, nennt es Sabrina Schray. Und das auch mal im Supermarkt: So um 2013/2014 standen sie in einem, verkleidet in Musical-Kostümen haben sie dort gespielt, gesungen und gesprochen. Die Reaktionen? Unterschiedlich. Manche fanden es toll, "andere haben sich gestört gefühlt, weil wir halt grade vor dem Regal mit den Gurkengläsern im Weg standen."

"Frisch und ganz alt" seien die Vampire Cats: Denn erst vor einem Dreivierteljahr haben die Frauen ihre Band gegründet. Eine, die irgendwo zwischen Noise Punk, Elektro und Russen-Techno zuhause ist. Und Humor mit ernsthaftem Hintergrund verbindet. Ihr erstes Lied bestand aus den kleinen Beschreibungstexten auf Kosmetik-Produkten, um zu zeigen, wie sich Frauenkörper in den Augen der Gesellschaft darzustellen haben.

Sabrina Schray selbst ist als Performance- und Videokünstlerin Teil diverser kreativer Projekte. Sie ist Gründungsmitglied der Gruppe CIS, einem "fluiden Kollektiv" das "an der Schnittstellen von Film, Theater und Performance" arbeitet. Für das Stuttgarter Theater Rampe hat Schray an verschiedenen Projekten und Aufführungen mitgewirkt: an der "Matriarchalen Volksküche" im Rahmen des Projekts Volkstheater zum Beispiel, als die Rampe einen Bauwagen auf den Stuttgarter Marienplatz stellte. um die Zukunft des Theaters in Zusammenarbeit mit BürgerInnen neu auszuloten.

Eigentlich hatten die Vampire Cats derzeit eine kleine Tour geplant. Die haben sie, klar, abgesagt. Ihr selbst gehe es gerade ganz gut, sagt Sabrina Schray. "Ich muss improvisieren, aber ich komme schon durch." Aber sie hat Freunde, "die in Gegenden der Welt leben, in denen das Gesundheitssystem nicht so gut ist wie hier", sagt sie. "Ich hoffe wirklich, das diese Zeit genutzt wird, darüber nachzudenken, was wir in der Zukunft nicht mehr so haben wollen."

Folge 21: Vorhang auf für Moritz Finkbeiner und Cluster Bomb Unit!

 

Donnerstag, 16. April 2020

Moritz Finkbeiner ist von der Corona-Krise gleich doppelt betroffen. Umso mehr als das, was er als Musiker und Konzertveranstalter des Kunstvereins Wagenhalle einnimmt, immer nur von der Hand in den Mund reicht. Aber im Moment läuft eben gar nichts mehr. Anfang März war er noch mit dem Yürgen Karle Trio in Brüssel. Der Name bezieht sich auf den Schrotthändler Jürgen Karle, früher Nachbar und Förderer der Wagenhallen-Künstler. Das Trio bestand aus acht Musikern.

Anfang Juni hätte ein Gig des Projekts Metabolismus in Turin folgen sollen mit einer anschließenden kleinen Tour. Der Kontakt kam zustande durch Virgina Genta und David Vanzan: das Jooklo Duo, das auch am Beginn des Troglobatem-Festivals stand, seit 2015 im zweijährigen Rhythmus der Höhepunkt von Finkbeiners Konzertprogramm an der Wagenhalle. Auf die Tour hatte er sich besonders gefreut. Finkbeiner ist Musiker aus Leidenschaft. Auf der Ebene, auf der er arbeitet, basiert alles auf gegenseitigen Einladungen.

Die Konzerte des Veranstalters "Für Flüssigkeiten und Schwingungen" (FFUS), die Finkbeiner organisiert, sind seit mehr als 20 Jahren das eigentliche Herz des Stuttgarter Underground. Zu nächtlicher Stunde, kaum angekündigt, können Kenner und Fans hier echte Highlights erleben, wie sie im braven Stuttgart zu früheren Zeiten niemand für möglich gehalten hätte. Finkbeiner selbst spielt in ungefähr zehn Bands, vom Hardcore Noise über Pop bis Free Jazz, deckt selbst also das ganze Spektrum ab, aus dem er immer wieder auch Musiker einlädt.

Cluster Bomb Unit gibt es seit 1989. "Raw Punk" nennen sie ihren Musikstil. Finkbeiner ist als Bassist 1996 bei einer US-Tournee eingestiegen. Die Aufnahme ist schon ein paar Jahre alt. Sie stammt vom Frostpunx Picnic Festival 2016 im AZ Mülheim. Mit der Bewegung gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt hat der Titel nur wenig zu tun. Doch so herzhaft wie Julia Finkbeiner, die Schwester des Bassisten, hier "Lügenpack" ins Mikrophon schreit, wäre die Cluster Bomb Unit seinerzeit auch auf der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 sicher ein gern gesehener Gast gewesen.

Auch Cluster Bomb Unit haben die Absagen kalt erwischt. Am 14. März hätten sie einen Auftritt im Esperanza in Schwäbisch Gmünd gehabt. Zwei Tage vorher hieß es zunächst noch "auf live Musik müsst ihr dieses Wochenende nicht verzichten kommt am Samstag zu Cluster Bomb Unit, The Higgins und Iron Gates!" Doch noch am selben Tag musste sich das selbstverwaltete Jugendkulturzentrum korrigieren: "Auch wir schließen uns den Empfehlungen von verschiedenstem medizinischem Fachpersonal an und sagen alle Veranstaltung bis vorerst Ende März ab."

Wer Moritz Finkbeiner und Cluster Bomb Unit unterstützen will, kann dies tun, indem er oder sie ihre Alben digital oder auf Vinyl online erwirbt.

Web: www.clusterbombunit.bandcamp.com
 

Folge 20: Vorhang auf für Yolanda Diefenbach und Carlos Bauer!


Mittwoch, 15. April 2020

Die Maßstäbe einer Vollblut-Musikerin: "Früher war ich noch in vielen Bands unterwegs", sagt Yolanda Diefenbach. Jetzt spielt sie nur noch in einem festen Duo, den "Smurfes", mit Bassklarinette und Gesang. Dann macht sie noch bei einem Elektroprojekt mit. Und außerdem ist sie festes Mitglied in einem Saxophon- und einem Weltmusik-Quartett. Nicht so viel? "Früher war es jedenfalls noch mehr", lacht sie. Heute aber hat sie weniger Lust auf feste Zusammenstellungen, sondern will munter herumexperimentieren mit verschiedenen Stilen in den unterschiedlichsten Konstellationen, "eine ganz offene Suche, was harmoniert".

Gefunden hat sie dabei zum Beispiel Carlos Bauer aus Brasilien, der sie im hier gezeigten Stück, einer Coverversion von "Alfonsina y el Mar", auf der Gitarre begleitet. Seit knapp drei Jahren kennen sich die beiden und musizieren seitdem immer wieder gern miteinander. Nicht als feste Band, sondern meistens spontan. "Carlos ist ein richtiger Gefühlsmensch", erzählt Yolanda Diefenbach, "einer der Akzente setzt und nicht direkt alles abfeuert, was da ist."

Als die 36-Jährige zum ersten Mal das Stück Alfonsina y el mar hörte, das die melancholische Geschichte einer Frau erzählt, die in das Meer gekleidet ist, wusste sie sofort: "Das musste ich nachsingen." Und Carlos Bauer, so fügt es sich manchmal, konnte den Gitarrenpart schon spielen, als sie ihn anfragte, und war direkt begeistert.

Zum Gesang ist Diefenbach erst über Umwege gekommen. Eigentlich hat sie Jazz-Saxophon in Mannheim studiert und in (vielen!) Bands gespielt. Bei einer davon sprang der Sänger ab und Diefenbach für ihn ein. "Inzwischen singe ich sogar lieber", erzählt sie, und am liebsten: in einem Duo. "Da kann man am besten aufeinander eingehen, da ist man ganz nackt."

Auch Diefenbach treffen die Corona-bedingten Maßnahmen hart. "Man wird nicht Musiker, weil man Geld verdienen will", sagt sie. "Aber man muss schon von irgendwas leben." Eigentlich sah es für sie in diesem Jahr ziemlich gut aus. Jetzt aber sind alle Konzerte bis mindestens Juni gecancelt. Einen Teil der Einnahmenausfälle kann sie zur Zeit als Studiomusikerin kompensieren. "Aber das ist nicht das Wahre", sagt Diefenbach. Wenn alle nur ihre Parts einspielen und am Ende ein Stück daraus zusammengeschnitten wird, fehlt ihr das Liebste am Musizieren: Die Interaktion. Trotzdem bleibt sie Optimistin durch und durch: "Solange man sich irgendwie über Wasser halten kann, kann man sich auch gut fühlen." Darum ermuntert sie trotz alledem dazu, die freigewordene Zeit kreativ zu nutzen.

Carlos Bauer ist hier auf Instagram zu finden. Yolanda Diefenbach ist ebenfalls auf Instagramm und betreibt einen YouTube-Kanal mit zahlreichen weiteren Stücken. 
 

Folge 19: Vorhang auf für Ismene Schell!


Dienstag, 14. April 2020

Als Ismene Schell Anfang Januar in Teheran ankam, hatten die USA gerade den hochrangigen General Quasem Soleimani durch einen Raketenangriff ermordet. Hunderttausende schlossen sich den Trauermärschen an. Wenige Tage später schossen die iranischen Revolutionsgarden wohl versehentlich ein ukrainisches Passagierflugzeug ab. Als die Wahrheit scheibchenweise ans Licht kam, gingen die Iraner gegen die Verschleierungspolitik ihrer Regierung auf die Straße. Von all dem bekamen Schell und ihre Truppe aber nur wenig mit, denn sie hatten eine andere Mission: ein gemeinsames Stück mit der Teheraner Yerma Theatre Group, das von der Überwindung von Grenzen handelt.

Zu Beginn des Videos ist eine Frau zu sehen und zu hören, die sich mit den Fingern über die Stirn fährt und singt. Das erscheint unspektakulär. Doch im Iran ist es Frauen verboten, in der Öffentlichkeit zu singen und auch nur einzelne Haare unter dem Kopftuch heraushängen zu lassen. Die grauen Kostüme sind die Bekleidung, in der Frauen aufzutreten erlaubt ist. Also entschieden sich Schell und ihre Kollegin Neda Hengami alle, auch Männer, in diese Kluft zu stecken. Später dreht sich einer der Iraner immer schneller im Kreis. Er hat dazu ein rotes Kleid übergezogen. Nicht weil er sich selbst als Frau fühlt: Die Möglichkeit dies zu tun, bedeutet für ihn einen Akt der Befreiung, ebenso wie der Tanz der Sufi-Derwische.

Vor einem Jahr ist Ismene Schell erstmals für zehn Tage in den Iran gereist: um das Land anzusehen, aber auch schon "mit der vagen Idee, Künstler und Theaterleute kennenzulernen". "Durch glückliche Fügung", so die Theaterpädagogin, sei sie ziemlich schnell in Kontakt gekommen. Andererseits sei das nicht schwer, wenn man in die entsprechenden Cafés geht. Im August gab sie im Teheraner Schauspielinstitut einen dreiwöchigen Theaterworkshop. Wieder zurück in Stuttgart suchte sie nach Mitstreitern und flog Anfang Januar mit einer siebenköpfigen Crew und einer Förderung des Kulturamts wieder in den Iran. Das Video zeigt abwechselnd Szenen aus dem Stück und die Besucher in den Straßen der iranischen Hauptstadt und den verschneiten Bergen der näheren Umgebung.

In fünf intensiven Probewochen erarbeiteten die 15 jungen Schauspieler*innen aus beiden Ländern ein Stück, das vom 10. Februar an zwei Wochen lang im Theaterhaus Teheran aufgeführt wurde. Die Zensur sah zu, wie immer. Einige Szenen mussten modifiziert werden, doch die Aufführung kam zustande, obwohl am Ende eine Frau ein Lied vorträgt. Für die iranischen Theatermacher ist so etwas riskant. Sie sind aber gewohnt, Freiräume immer wieder neu auszutesten. Die Sängerin Vitiko Schell, auch für Ton und Schnitt des Videos verantwortlich, kommt allerdings aus Stuttgart. Sie hat das Lied in acht Tagen gelernt.

Am Ende wurde das Theater geschlossen: wegen des Coronavirus, das im Iran früher angekommen war, auch wenn Deutschland das Land bei der Zahl der Infizierten mittlerweile überholt hat. Die Rückfahrt war eine Odyssee: Die Türkei schloss die Grenzen. Die Fluggesellschaften verlangten plötzlich viel mehr. Schell und ihre Truppe sind auf Mehrkosten von rund 6000 Euro sitzen geblieben, für die sie nun um Spenden bittet. Die dramatischen Ereignisse sind für sie aber überhaupt kein Grund aufzuhören. Sie denkt bereits über ein neues Stück nach. "Die Iraner sind toll, dieses Land ist toll", schwärmt sie.

Die im Video angekündigte Aufführung im Theaterhaus ist auf einen noch unbestimmten Zeitpunkt verschoben.


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