Sonntag, 12. April
Nein, das O-Team befindet sich nicht in einer akuten Notsituation. Die an der Wagenhalle in Stuttgart ansässige Theatergruppe erhält eine institutionelle Förderung, ist also materiell abgesichert. Zwar ist die Premiere ihres Neuen Tanztheaterstücks "Wetware" abgesagt worden, die eigentlich am 27. März in München hätte stattfinden sollen. Aber das ist nicht der Grund, warum Nina Malotta, die Bühnenbildnerin, Kontext für "Vorhang auf!" eine Filmversion ihres Stücks "Café Stefanie/Corporate Bohème" anbietet, realisiert vor fünf Jahren in München und Stuttgart. "Ich würde mich freuen", schreibt sie, "wenn wir ein bisschen Freude und Wärme mit diesem Beitrag verbreiten können."
Das Café Stefanie, auch Café Größenwahn genannt, war eine legendäre Münchner Künstlerkneipe. Alles was Rang und Namen hatte, war dort um 1900 zu Gast: Künstler bis hin zu Paul Klee, Theaterleute wie Erwin Piscator, Autoren wie Gustav Meyrinck oder Heinrich Mann sowie alle späteren Protagonisten der Münchner Räterepublik. In den Worten von Erich Mühsam: "Massenhaft Maler, Schriftsteller und Genieanwärter jeder Art, auch viele ausländische Künstler, Russen, Ungarn und Balkanslawen, kurz das, was der Münchener Eingeborene in den Sammelnamen ‚Schlawiner‘ zusammenfasst." Im Mittelpunkt: die lebenshungrige Franziska zu Reventlow, die über ihre Bohème-Zeit den Roman, "Herrn Dames Aufzeichnungen", geschrieben hat.
Angeregt durch solcherlei Lektüre, begab sich das O-Team vor ungefähr sechs Jahren zusammen mit dem Theater Pathos aus München auf die Spuren der Bohème der Jahrhundertwende. Langhaarige, Barfußpropheten, Vegetarier, Jugendbewegung und Jugendstil, Künstler und Literaten: Vieles, was in der Subkultur nach 1968 fröhliche Urständ feierte, gab es damals bereits. Manches war aber auch ganz anders. Wie wäre es, fragten sich die Theaterleute, tief in die Vergangenheit einzutauchen, um mit dem Publikum gemeinsam unsere Obsessionen auszuleben und am Morgen verjüngt zu erwachen?
Einzeln wurden die Zuschauer in viertelstündigem Abstand von einem verabredeten Treffpunkt an einen geheimen Ort entführt. Sie bekamen die Augen verbunden, erhielten einen Decknamen und Passwort, mussten persönliche Gegenstände abgeben und wurden geschminkt. Keiner wusste, wer Publikum und wer Schauspieler war – außer natürlich die Schauspieler, die ihre Gäste "subtil animierten", wie Malotta sagt, aus sich herauszugehen, auf einer kleinen Bühne etwas vorzuführen und in Interaktion zu treten. Für den Fall, dass jemand zu weit ging, war einer zuständig, gegebenenfalls eine Raucherpause anzuordnen.
In Stuttgart gab es keine Bohème wie in München. Um einen Anknüpfungspunkt zu finden, verlegte sich das O-Team auf den "Oberdada" Johannes Baader, der hier an der heutigen Hochschule für Technik Architektur studierte, dann den Bau eines "Welttempels für einen internationalen interreligiösen Menschenbund" plante, bevor er als der wiedererstandene Christus in Erscheinung trat und an der Ersten Dada-Messe in Berlin teilnahm.
Bei allen Aufführungen war immer ein Rainer Maria Fassbinder dabei, der einen Film über die Bohème drehen wollte. Aus dessen Aufzeichnungen in München und Stuttgart ist das Video zusammengeschnitten.
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