Mittwoch, 8. April 2020
"Alle Menschen werden Brüder": Sonntags ab 18 Uhr spielen Musiker in Stuttgart derzeit wie an vielen Orten am offenen Fenster Beethovens "Ode an die Freude". Die offizielle Hymne der Europäischen Union wird auch sonst gern zu staatstragenden Anlässen aller Art gespielt. Und nicht nur in Demokratien: auch zum Beispiel zur Eröffnung der Neuen Bibliothek von Alexandria, noch unter Hosni Mubarak, der sein Land ausgeplündert hat. Brüder? Auch in Europa eignen sich Superreiche alles an, was den anderen dann fehlt. Wie kommen wir da raus?
Mit "Beethovens Escape Room" haben sich die Künstlerin Anna Gohmert, die Regisseurin Anna-Kirstine Linke und der Musiker Jonas Wolf für den Kunstpreis Beethoven Reloaded 2020 anlässlich des 250. Geburtstags des Komponisten beworben. Escape Rooms – falls jemand damit nicht so bewandert sein sollte – sind ursprünglich eine Art von Computerspielen, die aber, weil es auf Dauer doch nicht so viel Spaß macht, allein vor sich hin zu daddeln, von geschäftstüchtigen Menschen in den realen Raum übertragen wurden. "Im Gegensatz zum 'echten Leben'", so beschreiben die drei die Ausgangssituation, "scheint das Entkommen möglich, zudem ist man dabei nicht allein."
Acht Teilnehmer wurden zunächst in einen dunklen Raum geführt, in dem nur zwei elektrische Wachskerzen für ein schwaches, flackerndes Licht sorgten. Sie mussten verschiedene Rätsel lösen, etwa an wen Beethovens "Heiligenstädter Testament" gerichtet war, um schließlich nach verschiedenen Aufgaben an die Zahlenkombination zum Schloss für den zweiten Raum, die Beethoven-Rezeption zu gelangen. Hier wurden sie mit Fragen konfrontiert wie: "Möchtest du in 250 Jahren erinnert werden?" oder "Wünschst du dir, dass eines Tages Produkte mit deinem Gesicht drauf verkauft werden?" Zuletzt mussten sie an einer Karaoke-Station singen. Und zwar was? Genau: "Freude schöner Götterfunken …"
"Was passiert, wenn die Realität eine diffus-dystopische Übungssituation einholt, lässt sich aktuell in den Anfängen beobachten", schreiben Gohmert, Linke und Wolf zum vorzeitigen Ende ihres Kunstprojekts aufgrund von Corona. "Vielleicht stellt der aktuell zu beobachtende 'Hamsterkauf' eine Praktik dar, die sich mit der Lust an spielerischer Endzeit-Vorbereitung vergleichen lässt." Und weiter: "Die gefahrlose Realität, der man sich im Escape Game aussetzen konnte, scheint in jedem Fall an Relevanz einzubüßen."
Der Kunstpreis Beethoven Reloaded wird nun unter allen zehn Bewerbern gleichmäßig verteilt. Gohmert, Linke und Wolf hatten noch Glück, andere fanden überhaupt nicht den Weg zum Publikum. Nun stecken sie auf verschiedene Weise fest. Wolf ist durch ein Promotionsstipendium bis Ende September gesichert, muss aber auf Jobs als Cello-Lehrer und Musiker verzichten. Linke ist mit einem kleinen Rucksack in Hamburg gestrandet, ihr Regie-Studium in Zürich ist unterbrochen, da die Schweiz ihre Grenzen und die Uni ihre Pforten geschlossen hat. Gohmert muss, statt etwas Geld in der Gastronomie zu verdienen, ihre elfjährige Tochter betreuen. Bei unverändert laufenden Kosten kann sie nur weiter in geplante Projekte investieren, von denen sie noch nicht weiß, ob sie überhaupt stattfinden.
Ist ein Escape Room einer, aus dem man entkommen will oder einer, in den man entkommen will, fragt das KünstlerInnentrio. Ihr dritter Raum, der Beethoven Quizz und Trainings-Raum scheint genau die Situation vorwegzunehmen, in der sich die Zuhausebleiber derzeit alle befinden.
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