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Lily schießt zurück

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In grellen Bildern erzählt Sam Levinsons "Assassination Nation" von einer weiblichen Teenie-Clique und den Gefahren der elektronischen Denunziation. Und dann wütet sich der Film hinein in eine plumpe Gewalt-Groteske.

Achtung! Dieser Film warnt vor sich selber! In großen Lettern listet er auf – und illustriert dies zugleich in knallig-kurzen Szenen –, was den Zuschauer erwartet: "Drogenmissbrauch, sexuelle Inhalte, toxische Männlichkeit, Homophobie, Transphobie, Knarren, Nationalismus, Rassismus, Kidnapping, männlicher Blick, Sexismus, Flüche, Folter, Gewalt, Blut, Waffen und fragile männliche Egos". Ein Exploitation-Movie also, von dem man verlangen darf, wie es ein Zuschauer mal formuliert hat, dass es an die niedrigsten Instinkte appelliert. Damit auch klar ist, wo diese Reizwörter ihre Realisierung finden werden, sind deren Buchstaben in den US-Farben Rot-Weiß-Blau gehalten. Noch genauer wird der Film von seiner aus dem Off erzählenden Hot-Pants-Heldin Lily (Odessa Young) verortet: in der kleinen Stadt Salem. Wie? Ist da nicht schon mal früher was passiert? Ja doch, in diesem amerikanischen Kaff haben im Jahr 1692 hysterisch-bigotte Puritaner neunzehn Frauen als Hexen "entlarvt" und gehenkt.

Aber noch dürfen sich die kregel-aufgekratzten High-School-Teenies Lily und ihre drei Freundinnen Sara (Suki Waterhouse), Em (Abra) und Bex (Hari Nef) in wilden Bildmontagen und zu basswummerndem Sound frei herumtreiben. Beziehungsweise: es frei treiben. Auf einer Party zum Beispiel, bei der die Transgender-Frau Bex mit einem Latino-Football-Buben Blicke tauscht, die beiden auch ein Bett finden, sie aber nach Vollzug zu hören kriegt, das dürfe nie öffentlich werden. Lily ist mit ihrem jungen Lover auch nicht zufrieden, er tut nicht das, was sie will, außerdem ist sie sowieso nicht ganz bei der Sache und textet heimlich einen Kerl an, den sie "Daddy" nennt. Aber die vier jungen Frauen können sich auch untereinander beschäftigen, sie liegen auf dem Teppich und fummeln an ihren Smartphones rum. Sie dümpeln auf bunten Aufblasinseln im Pool und quatschen rüde über Männer. Oder über jene im Internet aufgepoppten Bilder vom homophoben Bürgermeister, der sich Frauenkleider angezogen hat.

Schildert Sam Levinsons "Assassination Nation" nun eine kranke Selfie-Twitter-Instagram-und-Whatsapp-Welt? Oder ist dies selber ein kranker Film? Gerade noch war er abgebrüht-empathielos damit beschäftigt, mit Bildern von knapp bekleideten und obercoolen Teenies zu provozieren, so als wolle er an die rotzigen Riot Girls der 1990er-Jahre erinnern und an den Spruch: Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin. Nun jedoch will er einigermaßen ernsthaft in eine Diskussion einsteigen, in der es auch um die Macht der neuen Medien und die Gefahren der digitalen Denunziation geht, um Hack-Angriffe, die Existenzen vernichten. Für Bex ist das allerdings kein Problem mehr: Es gebe eben zwei Sorten von Menschen, führt sie aus, nämlich die jungen, die wüssten, dass so etwas wie Privatsphäre längst tot sei, und die alten, die sich gegen dieses Faktum noch wehrten. "Kein Mitleid mit den Gehackten", sagt sie. Lily aber grenzt sich von ihrer Freundin ab. Für sie ist der Tod des Bürgermeisters, der sich nach dem Zwangsouting eine Kugel in den Kopf gejagt hat, kein Anlass zum Triumph.

Im Gleichschritt zum Angriff gegen Rot-Weiß-Blau

Als dann auch noch der integre schwarze Schuldirektor wegen eines Badewannenfotos seiner sechsjährigen Tochter als Kinderschänder angeprangert wird, geht das Lily und ihrer Clique viel zu weit. Doch es ist zu spät, der anonyme Hacker stellt jetzt alles über alle ins Netz. "Das ist die Story, wie meine Heimatstadt Salem völlig ausgetickt ist", hat Lily schon zu Beginn angekündigt, und nun brechen die Dämme der Zivilisation, tobt der Mob durch die Vorstadtstraßen, schießen Nachbarn auf Nachbarn. Der Film allerdings wirkt so, als wäre er nun selber irritiert. Plötzlich will er für den Zerfall der Zivilisation nicht mehr die ganze Gemeinde verantwortlich machen, sondern – anders als etwa die in ihren Gewaltdarstellungen ähnliche "Purge"-Film-Serie – vor allem deren maskuline Mitglieder und ihre fragilen Egos. Nachdem Lilys Chat-Protokolle mit "Daddy" durchs Netz rauschen und sie sogar selber in Hacker-Verdacht gerät, wird sie in Szenen, die vielleicht sogar Hans-Georg Maaßen als Hetzjagd bezeichnen würde, von bewaffneten Männern in Masken verfolgt. Und bald auch ihre Freundinnen.

Der Film leistet sich hier erneut, und nicht immer zu seinem Vorteil, einen Bruch, zieht sich wieder zurück aus einer ernsthaften Medien-Diskussion, stürzt sich stattdessen in Genre- und Filmzitate und verengt sich dabei zum feministischen Pamphlet. Das Home-Invasion- und Slasher-Kino wütet jetzt in "Assassination Nation", vor allem aber das Rächerinnen-Kino mit seinen Female-Empowerment-Posen. Die denunzierten Frauen im Salem von heute wehren sich nämlich, aus Gejagten werden Jägerinnen: Haben sich die von Vergewaltigung und Lynchmord Bedrohten zunächst mit Messern, Rasierklingen oder Nagelschussgeräten nur verteidigt, greifen sie sich nun große Knarren und Schwerter, ziehen sich wie japanische Kino-Vorbilder aus den 1970er-Jahren rote Lackmäntel über und marschieren im Gleichschritt zum Gegenangriff. Von seinem halbwegs realistischen ersten Teil hat sich der Film nun längst verabschiedet, er wird zu einer Gewalt-Groteske, in der das böse Trump-Amerika immer wieder mit einem Umhang drapiert wird, nämlich mit der US-Flagge. Es hilft also nur Gewalt, wo Gewalt herrscht. Und erst wenn die Schlacht der Frauen erfolgreich geschlagen ist, kann einzelnen Männern Pardon gegeben werden. Andererseits weiß dieser Film und spricht dies auch mal aus: "Ist doch alles nur Kino. Oder?"

 

Sam Levinsons "Assassination Nation" ist ab Donnerstag, 15. Oktober, in den deutschen Kinos zu sehen. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, <link https: www.kino-zeit.de external-link-new-window>sehen Sie hier. 


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