Womöglich zeugt es von geistiger Kapitulation, meine Kolumne mit einer Frage zu beginnen. Ich tue es trotzdem: Gibt es noch was zu sagen?
"Der Aktionär", "Deutschlands führendes Börsenmagazin", titelt im April: "Megatrend Rüstung". Das Blatt meldet "700 Prozent mit Rheinmetall" und verrät, welche Wertpapiere "jetzt Vollgas" geben. Wenn Deutsche von Vollgas reden, droht nicht nur wegen freier Raserei auf Autobahnen höchste Abschreckung. Gier nach Gas gehört allerdings nicht zum Kerngeschäft des Spaziergängers.
Es ist April, der kalte Frühling hat am frühen Abend ein paar warme Streicheleinheiten spendiert, ich sitze auf einer Schlossgartenbank mit Blick auf die Freitreppenruine des Lusthauses. Dieses herzogliche Etablissement aus dem 16. Jahrhundert ist nicht zwingend mit den heutigen Laufhäusern im Rotlicht zu vergleichen, über deren Existenz der Stuttgarter Gemeinderat seit Jahrzehnten so erregt wie ergebnislos streitet. Lusthäuser dienten, lese ich, als "Ort höfischer Spiele und Vergnügen".
Hinter der Ruine steht der Glas- und Betonblock des Innenministeriums, dessen höfisch vergnügter Chef Thomas Strobl neulich gesagt hat, was zurzeit pausenlos gesagt wird: "Wir müssen uns verteidigungsfähig machen." "Verteidigungsfähig" ist das andere Wort für "kriegstüchtig". Diagnostiziert hat der CDU-Minister auch "Nachbesserungsbedarf" bei "Schutzräumen", bekannt auch als Panikräume und Bunker.
Ich sitze im Grünen, male mir Spiele und Vergnügen im Lusthaus aus und beobachte erstaunt die vielen Menschen, die an mir vorbeijoggen. Fast alle sind jung und weiblich, und beim Anblick ihrer frühlingshaften Triebkraft reagiere ich als Spaziergänger i.R. ausnahmsweise mal nicht zynisch, sondern melancholisch. Wozu lauft ihr noch, frage ich mich. Wollt ihr euer Leben verlängern, den Tod ausbremsen, ausgerechnet jetzt, da Rüstungsaktien Vollgas geben und euer finaler Sprint schon bald im Bunker enden wird?
Nein, ich sehe nicht nur schwarz, wie mir oft unterstellt wird, nicht an einem lauen Abend im kühlen April. Am Morgen hat mich in der U6 Stuttgarts Straßenbahn-Lyrik an der Waggonwand aufgebaut: "Die blauen Frühlingsaugen / schaun aus dem Gras hervor; / das sind die lieben Veilchen, / die ich zum Strauß erkor." So lautet die erste Strophe von Heinrich Heines Gedicht "Die blauen Frühlingsaugen". Wahr ist, dass ich blaue Augen habe, die früher gelegentlich auch Veilchen waren.
Wie die europäische Idee scheitert
Mit der Bahn war ich zum Fasanenhof im Stadtbezirk Möhringen gefahren. 1960 hat man in diesem abgelegenen Stadtwinkel einen Europaplatz "zur Förderung der europäischen Idee" eingerichtet. Dieses feine politische Gespür für die solidarische Zukunft des Kontinents wurde 30 Jahre später mit Geschäfts- und Wohnbunkern im Neubaugebiet "Europaviertel" noch lustvoller ausgelebt. Dort gibt es heute die Moskauer Straße, was unseren Verteidigungswillen stärkt.
Unser Europa. Vor Jahren habe ich in weiser Voraussicht ein 2014 erschienenes Buch mit dem Titel "Als der Krieg vor der Haustür stand" aus einem Schnäppchenkorb gefischt. Sein Autor Daniel Kuhn schildert den Ersten Weltkrieg in Baden und Württemberg, und auf Seite 24 findet sich dieser Eintrag: "Das eigentlich zur Friedenssicherung geplante Bündnissystem der europäischen Mächte hatte den Konflikt nicht verhindern können, sondern ihn im Gegenteil erst ermöglicht."
Angesichts der hanebüchenen Analogien in unserer Gegenwart, in denen der Türsteher Adolf Putin und sein Vorgänger Wladimir Hitler die Hauptrollen spielen, verzichte ich hier auf weitere historische Vergleiche. Wir leben in einem Klima, in dem militärische Volllaien mühelos Fußballfans übertrumpfen. Die von Wirtschafts- und Parteisoldaten ausgestoßene Parole "Money wins wars" erinnert an die Weisheit "Geld schießt Tore". Früher hieß die mal "Geld schießt keine Tore". Und zwar deshalb, weil gute Trainer wissen, worum es trotz astronomischer Geldsummen in der Arena wirklich geht: um eine psychisch und physisch optimal abgestimmte Truppe, um die Gefahren der nicht zu beeinflussenden Umstände des Kampfes (Platzbeschaffenheit, Wetter, Zufall, Gegner) und um das Genie des Feldherren. Das meiste davon habe ich nicht von Jürgen Klopp, sondern von Carl von Clausewitz. Viele schreien dennoch unaufhörlich, Siege im Krieg ließen sich mit Material erkaufen. Vietnam, Afghanistan, Atomwaffen hin oder her.
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