KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

VfB Stuttgart

Die Leute-Meute

VfB Stuttgart: Die Leute-Meute
|

Datum:

Sich mit geradezu biblischem Eifer über Nebensächlichkeiten aufzuregen, scheint immer mehr Verbreitung zu finden. Unser Autor versucht, diesem Eifer mit britischen Komikern zu begegnen.

Die Skala absichtlich herbeigeführter öffentlicher Hysterie ist leider nach oben offen – vergleiche Richterskala – und natürlich haben die Herbeiführer:innen, ob in den großbuchstabigen Medienhäusern, in irgendwelchen Offshore-Trollfarmen oder daheim in der Mansarde gleich erkannt, dass "Atombombe" nicht nur noch besser klickt als "Blackout", sondern auch noch viel besser von all den anderen größeren und kleineren Desastern ablenkt. Zum Beispiel davon, dass die Kinder mitsamt den Lehrkräften in unseren meist miserabel ausgestatteten Schulen natürlich auch bei niedrigen einstelligen Nachttemperaturen in unbeheizten Räumen vor sich hin frieren. Aber die sind das ja erstens nach langen Coronajahren gewohnt und zweitens: Stell Dir mal vor, 25 Leute in einem circa 40 Quadratmeter "großen" Raum – da kannst Du das Fenster die ganze Zeit auflassen und erstickst trotzdem fast, weil die Luft so schlecht ist. Vielleicht sollten die Menschen in den Schulen lieber froh sein, wenn es wenigstens nicht oben reinregnet oder die Asbestbrocken von den Decken fallen. Oder sie sollten sich freuen über den kühlschrankgroßen Luftfilter, der da tatenlos in der Ecke vor sich hingammelt, weil er entweder viel zu laut ist oder weil es niemanden gibt, der ihn richtig zu handhaben weiß. Und an dieser Stelle muss ich schnell das Thema wechseln, sonst landen wir noch in einer Grundschule oder einer Kindertagesstätte und fragen uns, warum die Menschen das überhaupt so lange widerstandslos hinnehmen, dass Staat, Land und Stadt die Kinder bzw. deren Bildung und generell deren Zukunft behandeln wie ... (hier bitte abfälligen Begriff Ihrer Wahl einsetzen).

Vielleicht ist mangelnder Widerstand bei wichtigen Themen aber auch schlicht und einfach mit übermäßigem Widerstand bei Nebensächlichkeiten wie einem Fußballclub, in unserem Fall natürlich dem VfB Stuttgart, zu erklären. Hier arbeiten sich Fans, häufig anonym hinter einem Avatar versteckt, an Personalien in einer Art und Weise ab, die in ihrer sinn- und argumentfreien Verbohrtheit kaum mehr von den sogenannten "Querdenkern" zu unterscheiden ist. Aber wen wundert's? 0711-Menschen machen eben 0711-Dinge, da ist an dem im Rest der Republik herrschenden Klischee wohl doch was dran.

Mit demselben biblischen Eifer, mit dem vor allem der neue Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle bekämpft wird, halten die Leute, die zur Meute werden, eine Sandale hoch für Sportdirektor Sven Mislintat und folgen ihm, wohin er will. Auch bis ans Ende dieser Welt womöglich.

Besser noch als mit Liedtexten der ebenfalls ziemlich quer im Stall stehenden Sängerin Nena lässt sich dieses ganze Theater aber mit Monty Pythons "Leben des Brian" ertragen ("lasst uns alle eine Sandale hochhalten"), so man es denn überhaupt mitbekommt, dieses Theater. Denn es findet hauptsächlich in überschaubaren sogenannten "Bubbles" statt, also zum Beispiel auf einer Plattform wie Twitter und in Internetforen, wo sich Gleichgesinnte mit mal mehr und häufig weniger intelligenten Beiträgen in ihren Meinungen und Abneigungen gegenseitig bestärken und links und rechts davon überhaupt nichts anderes mehr wahrnehmen bzw. dies alles als Lüge oder Lohnschreiberei bezeichnen. In etwa geht es da zu wie in US-amerikanischen Medienkonzernen – wenn auch auf deutlich kleinerer Flamme.

Schön, dass wir hierzulande einen stabilen öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben, über den man sich zwar durchaus zünftig ärgern kann, den abzuschaffen aber auch heute noch als durchgeknallte Idee einiger durchgeknallter Rechtsradikaler oder eines alten CDU-Vorsitzenden gilt und glücklicherweise bis heute von Mehrheitsfähigkeit weiter entfernt ist als der VfB von der nächsten Champions-League-Teilnahme.

Schlecht vorbereitet beim VfB

Nun darf man sich - genauso wie über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auch über den VfB Stuttgart und seine Funktionäre natürlich gerne aufregen, bis einem der Kamm schwillt. Gibt ja auch mehr als genug Gelegenheiten dazu, und außerdem ist Fußball bekanntermaßen zwar nur eine Nebensache, aber von allen Nebensachen doch immerhin die schönste. Mindestens. Und auch wenn man schlecht vorbereitete Pressekonferenzen von Fußballfunktionären nicht mit den Scharaden ausgewiesener Oberintriganten wie Wolfgang Dietrich vergleichen kann – der Auftritt zuletzt bei der Verkündung der Personalien Lahm, Khedira und Gentner war tatsächlich derart schwach, dass man schon fragen muss, was die Beteiligten sich da gedacht haben. Sich auf kritische Fragen vorzubereiten lernt man quasi am ersten Tag eines jeden Praktikums in jeder noch so kleinen PR-Agentur. Und dass die Frage nach der Einbindung des heiligen Sven Mislintat in die Personalüberlegungen kommen würde, war mindestens genauso klar wie das Amen in der Kirche. Also hätte doch, selbst wenn alle anderen vor lauter Naivität oder Abgehobenheit oder sogar ganz bewusst oder warum auch immer nicht dran gedacht haben, zumindest der erfahrene VfB-Kommunikationsdirektor Tobias Kaufmann die VfB-Granden besser vorbereiten müssen. Aber wahrscheinlich unterstelle ich hier einmal mehr viel zu viel Kompetenz in einer Branche, die zumindest neben dem Platz überwiegend durch Abwesenheit von Kompetenz glänzt. Einer Meute, die ohnehin permanent Schaum vor dem Mund trägt, liefert man damit allzu leichtfertig einen weiteren Vorwand, um sich auf die handelnden Personen zu stürzen wie die Zombies im Film World War Z.

Und dann soll am Mittwoch, 28. September, also am Tag des Erscheinens dieser Kolumne, ja auch noch die Hauptversammlung der VfB Stuttgart AG stattfinden. Sicher werden wir auch hierzu mehr als genug Grund finden uns aufzuregen. Darüber vielleicht, dass der ausgewiesene Porth- und Dietrich-Mann Bertram Sugg, installiert seinerzeit, um die Ausgliederung leichter durchzubekommen, dem Aufsichtsrat nicht mehr weiter angehört. Oder darüber, dass dem Rat künftig zwar auch eine Frau angehört, die aber freilich die Falsche ist. Oder darüber, dass Präsident Claus Vogt einmal mehr am kolportierten Vetorecht der Mercedes-Vertreter im Aufsichtsrat scheitert. Vielleicht auch darüber, dass ebenjene grad genannten Vertreter weiterhin verhindern, dass ein anderer Automobilbauer als Trikotsponsor präsentiert oder der Grundlagenvertrag zwischen Verein und Aktiengesellschaft neu verhandelt wird. Dass der Verein der AG sein Logo weiterhin quasi gratis zur Nutzung zur Verfügung stellt und auch zukünftig höchstens einen feuchten Händedruck bekommt dafür, dass die im Nachwuchsbereich des Vereins ausgebildeten Spieler für die AG vor Millionenpublikum spielen und für hohe TV-Erlöse sorgen. Sicher finden wir aber auch etwas ganz anderes, um uns aufzuregen. Die neue Corona-Subvariante böte sich hier an, stellvertretend für unzählige andere Ereignisse und Umstände.

Bei nächster Gelegenheit müssen wir dann aber über Katar sprechen, wo ja im Grunde genommen fast schon übermorgen eine Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Wenn wir dann noch Kraft haben - vor lauter Aufregung.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


6 Kommentare verfügbar

  • Nico
    am 03.10.2022
    Antworten
    Die Frage bleibt:

    Wer von uns sponsort nicht 1 bestimmte Sandale?

    Kann sein, dass man es auch einfach nicht weiß. Heutzutags häufig möglich.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:




Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 11 Stunden
Alles gut


Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!