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10 Jahre "Wir schaffen das"

Sie sind hier zu Hause

10 Jahre "Wir schaffen das": Sie sind hier zu Hause
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Zehn Jahre, nachdem die Grenzen für syrische Geflüchtete geöffnet wurden, und ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes wird hierzulande kontrovers über die Rückkehr nach Syrien debattiert. Zwei syrische Familien aus Stuttgart erklären, warum Deutschland ihr Zuhause bleibt.

Nach Syrien zurückkehren? Für Reem Chahrour und ihre Familie undenkbar. "Ich bleibe in Deutschland, weil die Muttersprache meiner Kinder Deutsch ist", sagt die 31-Jährige. Die syrische Frau lebt seit zehn Jahren mit ihrem Mann und zwei Kindern, acht und fünf Jahre alt, in Stuttgart. Ihre Kinder sind hier geboren. Mittlerweile haben sie und ihr Mann die deutsche Staatsbürgerschaft.

Chahrour war Studentin im Fach arabische Literatur an der Universität Damaskus, als sie 2015 mit ihren Eltern und ihrem Verlobten die Flucht nach Deutschland beschloss. Zwischen Einschüchterungen durch Assad-Anhänger und der Gefahr, dass ihr Verlobter als Reservist eingezogen wird, blieb für sie kaum eine Wahl. Sie verkauften ihre neue Wohnung, um die Flucht zu finanzieren. Das Ziel war eigentlich Norwegen. Doch nach einer riskanten Überfahrt in einem Holzboot und einem langen Weg durch Europa erreichten sie Ende 2015 Deutschland. In Stuttgart beantragten sie Asyl. Ein Jahr lang durften sie weder arbeiten noch einen Sprachkurs besuchen, bis ihr Asylantrag entschieden war.

Neubeginn mit Hürden

Der Weg zur Integration war nicht einfach, aber die junge Frau, ihr Mann und die Eltern waren entschlossen, schnell Deutsch zu lernen und ihr Leben neu aufzubauen. Sofort nach der Entscheidung, dass die Familie bleiben darf, begann Reem Chahrours Mann mit dem Sprachkurs und nahm die erste Ausbildungsstelle an, die ihm das Jobcenter vermittelte. Sein syrischer Ingenieurabschluss wurde nicht anerkannt – eine Ausbildung im gleichen Bereich war der einzige Weg, um endlich richtig anzufangen. Die Familie lebte drei Jahre von seinem Azubi-Gehalt, die Miete übernahm das Jobcenter. "Wir wollten schnell anfangen zu arbeiten, weil wir keine Last für den Staat sein wollten", sagt sie. Seit sieben Jahren arbeitet der Familienvater in einer unbefristeten Stelle im Telekommunikations-Bereich.

Für Reem Chahrour war der Berufseinstieg nach der Geburt ihres ersten Sohnes schwieriger. Ihr Studium in Syrien hatte sie nicht abgeschlossen, ihr Abitur wurde nicht anerkannt. Während der Erziehungszeit koordinierte sie Sprachkurse mit ihren Eltern, um die Kinderbetreuung zu schaffen – sie lebten zum Glück in derselben Stadt. Vom Jobcenter kam wenig Unterstützung bei der Ausbildungs- oder Arbeitssuche. Erst über ein Ehrenamt im zur Diakonie Württemberg gehörenden Verein für Internationale Jugendarbeit (VIJ) fand sie Anschluss zu Deutschen - und erhielte 2024 bei der Sprachschule des VIJ eine befristete Anstellung als Verwaltungskraft für Sprachkurse für Geflüchtete. Aktuell ist ihre Arbeitsstelle aber gefährdet, weil kaum noch neue Geflüchtete aufgenommen werden und daher immer weniger Kurse angeboten werden.

Hier nicht willkommen

Was Reem Chahrour immer wieder betont, ist ihre Dankbarkeit. "Die Deutschen haben unser sicheres Einkommen finanziert, dafür bleibe ich für immer dankbar." Doch von ihren Eltern muss sie sich wegen der Lage in Deutschland bald trennen. "Sie fühlen sich hier nicht willkommen", sagt Chahrour. Seit drei Jahren warten die Eltern vergeblich auf die Bearbeitung ihres Einbürgerungsantrags, obwohl sie allen Anforderungen entsprechen. Sie überlegen, freiwillig nach Syrien zurückzukehren und ihre noch bestehende Wohnung in Damaskus zu renovieren – im Wissen, dass ihnen ein Visum zum Besuch ihrer Kinder und Enkel in der Zukunft nicht garantiert ist.

Für die Eltern war der Weg zur Integration viel härter. Der Vater, in Syrien Bauingenieur und selbstständiger Händler vor dem Krieg, konnte in Deutschland keine Stelle finden. Sein Versuch, hier als selbstständiger Händler für Computerteile Fuß zu fassen, war für ihn wegen der bürokratischen Hürden schwierig. Die Mutter, einst Schulleiterin in Syrien, engagierte sich in Stuttgart vier Jahre lang ehrenamtlich in der Kinderbetreuung und als Schulbegleiterin. Mehr konnte sie nicht erreichen.

Nicht verantwortlich für Verbrecher

Trotz ihrer gelungenen Integration erlebt auch Reem Chahrour Ausgrenzung im Alltag. Es reicht von banalen Fragen über den Islam bis hin zu religiösen Beschimpfungen ihres Sohnes im Hort. Das kann sie nicht nachvollziehen. "Viele verstehen nicht, dass wir Syrer:innen sehr unterschiedlich sind". 

Für Syrer, die gewalttätig oder intolerant sind, fühlt sie sich nicht verantwortlich. "Kriminelle Syrer sollen bestraft und abgeschoben werden – das fordere ich auch", sagt sie, wenn man sie auf den Fall einer syrischen Großfamilie in Stuttgart anspricht, die nach mehr als 160 Straftaten schließlich im Oktober ausgereist ist. Doch Reem Chahrour wehrt sich gegen pauschale Urteile, die alle Geflüchteten treffen.

Obwohl ihre Familie städtisch, gebildet und mit offenen Werten aufgewachsen ist, fehlt Chahrour in Stuttgart der Kontakt zu Deutschen. Sie vermutet, dass die Anonymität in der Stadt dies erschwert. Was sie am meisten schmerzt: dass ihre Kinder kaum Freundschaften mit deutschen Kindern schließen können. Deswegen ist das Einzige, was sie sich noch von Deutschland wünscht, Chancengleichheit für ihre Kinder.

Syrien für Minderheiten gefährlich

Ähnliche Erfahrungen wie die Chahrours haben F. Al-Khoury (47, möchte anonym bleiben), seine Frau und seine zwei Kinder gemacht. Doch ihr Integrationsweg war schwieriger. Ende 2015 entschied die christliche Familie aus Damaskus, mit damals zwei Söhnen, das Land zu verlassen, nachdem Al-Khoury mehrfach an Checkpoints bedroht worden war, sein Geschäft als Goldschmied überfallen worden war und zwei Mörsergranaten das Haus der Familie getroffen hatten. Für Al-Khoury war es als syrischen Christen keine Option, das Regime von Baschar al-Assad zu unterstützen, doch mit den islamistischen Kämpfern hatte die Familie noch weniger Gemeinsamkeiten. Nach einem langen, gefährlichen und teuren Weg durch Europa, gemeinsam mit anderen Familien aus ihrer katholischen Gemeinde in Damaskus, endete ihre Flucht in Stuttgart. Hier beantragten sie Asyl.

Heute kann die Familie nicht an eine Rückkehr nach Syrien denken. "Unser Lebensmittelpunkt ist hier", sagt F. Al-Khoury. "Damaskus ist uns fremd geworden." Seine Eltern leben zwar noch dort, doch nach einem Selbstmordanschlag in einer Kirche in Damaskus im Juni 2025 fürchten sie und viele Christen in Syrien erneut um ihr Leben. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Truppen des neuen Präsidenten Ahmed al-Scharaa und Alawiten sowie Drusen machen ihnen Angst um die Zukunft der Minderheiten im Land.

Ein schwieriger Start

Am Tag, als ihr älterer Sohn in diesem Jahr seinen Realschulabschluss bekam, wussten die Eltern, dass ihre Entscheidung richtig war, hier ein neues Leben aufzubauen. "Deutschland hat uns vor dem Tod geschützt. Wir bleiben dankbar – egal, was hier passiert". Aber neben der großen Dankbarkeit ist da auch ein wenig Enttäuschung. Die ersten Jahre in Deutschland waren schwierig. "Wir hatten immer wieder Zweifel, ob wir das Richtige getan haben", sagt Al-Khoury.

Spannungen mit anderen Geflüchteten wegen ihres Glaubens prägten die Anfangszeit. In der Halle in Stuttgart-Weilimdorf, wo sie nach ihrer Ankunft zunächst unterbracht waren, hielt der Vater nachts Wache hinter einer dünnen Trennwand, damit seine Frau und die zwei Söhne, damals vier und sieben Jahre alt, sicher schlafen konnten. In Damaskus habe es vor dem Krieg kaum konfessionelle Spannungen gegeben, erzählt er. "Erst in Deutschland haben wir erlebt, wie tief das Misstrauen zwischen Syrern gehen kann."

Die Erwartungen, als Christen in Deutschland schnell aufgenommen zu werden, erfüllten sich nicht. "Immer wieder wurde unser Glaube in Zweifel gezogen." Am Anfang erhielt die Familie subsidiären Schutz für ein Jahr und musste für die Anerkennung als Flüchtlinge einen Rechtsanwalt beauftragen. Vor dem Verwaltungsgericht in Stuttgart, das 2018 ihren Flüchtlingsstatus anerkannte, glaubte man ihnen zunächst nicht, dass sie Christen seien. Der Dolmetscher erklärte schließlich der Richterin, dass der Name "Al-Khoury", wörtlich übersetzt "der Pfarrer", in der arabischen Welt ein typischer christlicher Familienname ist.

Job reicht nicht zum Überleben

Während die schulpflichtigen Kinder 2016 schnell in Vorbereitungsklassen kamen, mussten Al-Khoury und seine Frau warten, bis ihr Status geklärt war, bevor sie einen Sprachkurs besuchen durften. Der Vater musste mit einem Alphabetisierungskurs anfangen – er hatte in Syrien nur eine Grundschulausbildung. Seine Frau litt nach der Flucht unter starken Rückenproblemen und musste operiert werden. Die Erlebnisse belasteten die beidenKinder. Weil diese in der Schule von ihren Traumata im Krieg erzählten, meldete eine Lehrein die Familie beim Jugendamt wegen des Verdachts auf Misshandlung, anstatt Hilfe anzubieten. Später entschuldigte sich die Schule für den unbegründeten Verdacht.

Fünf Jahre lang suchte F. Al-Khoury vergeblich nach einer Arbeit. Ohne Sprachkenntnisse, ohne Ausbildung, ohne Netzwerk blieben seine Bewerbungen erfolglos. Vom Jobcenter kam wenig Unterstützung, und Versuche, sich beruflich selbstständig zu machen, scheiterten am fehlenden Kapital. Schließlich fand er über eine Leihfirma Arbeit als Fahrer bei einem Lieferdienst – unter harten Bedingungen: Er musste hunderte Pakete pro Tag liefern und länger als zehn Stunden arbeiten, die Überstunden wurden nicht erfasst. Weil das Fahrer-Gehalt allein für eine inzwischen fünfköpfige Familie in Stuttgart nicht reichte, waren sie zusätzlich auf Kinderzuschlag, Familienkarte und Wohnungsgeld angewiesen – die komplizierten Anträge dafür auszufüllen, sei nicht einfach gewesen.

Abschiebungen nach Syrien

Anfang November erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), er wolle die Abschiebungen nach Syrien wieder aufnehmen: "Der Bürgerkrieg in Syrien ist beendet. Es gibt jetzt keinerlei Gründe mehr für Asyl in Deutschland." Merz plant, den syrischen Präsidenten Ahmed al-Scharaa nach Deutschland einzuladen, um darüber zu sprechen. Und er setzt darauf, dass syrische Flüchtlinge freiwillig zurückkehren, um sich am Wiederaufbau ihres Landes zu beteiligen, und "diejenigen, die sich dann in Deutschland weigern, können wir selbstverständlich auch in naher Zukunft abschieben". Außenminister Johann Wadephul (CDU) hatte allerdings bei einem Besuch in Syrien Ende Oktober Zweifel daran geäußert, dass angesichts der massiven Zerstörung im Land kurzfristig eine große Zahl dorthin freiwillig zurückgehen werde. Allerdings will Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) an Abschiebungen festhalten. Der Auftrag dafür ergebe sich aus dem Koalitionsvertrag. Dort heißt es: "Nach Afghanistan und Syrien werden wir abschieben – beginnend mit Straftätern und Gefährdern."  (ses)

Bei der Arbeit hatte Al-Khoury Angst, sich krankzumelden, aber irgendwann brach er während einer Lieferfahrt vor Erschöpfung zusammen. Bluthochdruck wurde bei ihm diagnostiziert, er wurde für mehrere Wochen krankgeschrieben. "Aber Kündigung war keine Option. Ich musste meine Familie ernähren." So hielt die Familie ein paar Jahre lang durch, bis der Vater durch einen Kontakt eine Goldschmiedewerkstatt in Pforzheim entdeckte und eine feste Stelle bekam. Endlich hatte er die Anerkennung für seine handwerkliche Fähigkeit als Goldschmied bekommen, die er in seiner Familie in Syrien gelernt hatte. Seine Frau fand einen Minijob. Bessere Chancen für Arbeit oder Ausbildung gibt es für die 40-Jährige derzeit nicht – 2021 kam ihre jüngste Tochter zur Welt, und wegen des Mangels an Ganztags-Kindergartenplätzen ist eine Vollzeittätigkeit für sie nicht möglich.

Diskriminiert hier wie dort

Zwei Jahre, nachdem sie die Anträge gestellt hatten, erhielten die Mitglieder der Familie im vergangenen Oktober endlich die Einbürgerungsurkunden. Bis auf den Vater: Sein Sprachtest scheiterte knapp. Ein ärztliches Attest über Konzentrationsprobleme infolge seines hohen Blutdrucks wurde nicht anerkannt, obwohl sein Einkommen entscheidend für den gesicherten Lebensunterhalt der Familie ist. Für die Familie ist die Einbürgerung trotzdem sehr erleichternd und eine Art Anerkennung für ihre erfolgreiche, aber anstrengende Integration.

Anfeindungen erlebt die Familie aber immer wieder. Auch die "Stadtbild"-Debatte macht das nicht einfacher. Für die Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat F. Al-Khoury aber eine Erklärung: "Die Existenz von Menschen wie mir im öffentlichen Raum ist kaum sichtbar, weil ich arbeite und mich an die Regeln halte. Die Gesellschaft sieht oft nur diejenigen, die Probleme machen – und verallgemeinert auf alle Syrer und Asylbewerber", sagt er. "Die meisten Syrer, die ich hier kenne, sind friedlich und fleißig. Die, die sich nicht an die Regeln halten, sollen abgeschoben werden."

Ein Aspekt der Integration fehlt der Familie bislang: Zu Deutschen bleibt der Kontakt spärlich. "Viele von uns haben Angst, von den Deutschen abschätzig bewertet zu werden – auch wegen der Sprache", sagt Al-Khoury. Fragen wie "Habt ihr in Syrien Kühlschränke?" hinterließen ein Gefühl der Überheblichkeit ihnen gegenüber, das schwer zu überwinden sei.

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