Wie eine Kundgebung auszusehen hat, ist in der Parteischrift "Der Nationalrevolutionär" festgehalten. Die Schrift ist 2019 erschienen und verspricht, ein "Handbuch für Aktivisten unserer Bewegung" zu sein. "Mit möglichst geringem Aufwand muss das Maximum an Aufmerksamkeit erreicht werden", heißt es. "Die Außenwirkung ist entscheidend."
Daher sollen Kundgebungen "durch kreative und visuelle Neuerungen aufgewertet werden". In der Kurstadt ist die Neonazi-Partei besonders kreativ: Leonhard T., ein Teilnehmer, schreibt Begriffe wie "Gender" und "Queer" mit Kreide auf den Boden, dann benutzt der junge Mann eine Regenbogenflagge als Putzlappen, um die Begriffe wegzuwischen.
Im "Handbuch" wird erklärt, die "Macht der Bilder" errege Aufmerksamkeit und strahle in den sozialen Netzwerken. Auf Instagram und TikTok, Telegram und X (früher Twitter) sind die Neonazis präsent. Die Partei nutzt ein Foto der Aktion, um ihren Veranstaltungsbericht zu illustrieren. Darin schreiben die Neonazis, man habe ein "Straßentheater" durchgeführt. Sie missbrauchen die Kunst- und Versammlungsfreiheit, um Hass gegen Minderheiten zu verbreiten.
"Antisystemische Haltung"
Der Dritte Weg gründete Mitte 2024 einen "Stützpunkt Baden-Württemberg" seiner "Nationalrevolutionären Jugend" (NRJ). Seitdem erfährt die Jugendorganisation im Ländle einen starken Zuwachs. Die meisten, die an der Kundgebung in Bad Mergentheim teilnehmen, sind jung. Viele offenbar minderjährig. Das legen Fotos der Teilnehmer:innen, die Kontext exklusiv vorliegen, nahe. Was macht eine Neonazi-Organisation wie die NRJ so attraktiv?
Das weiß Rolf Frankenberger. Er ist Geschäftsführer am Institut für Rechtsextremismusforschung der Universität Tübingen, das im Frühjahr 2023 gegründet wurde. Gegenüber Kontext erklärt Frankenberger: "Die Attraktivität liegt vor allem in der antisystemischen Haltung. Junge Menschen können sich so absetzen von einem als 'woke' wahrgenommenen Mainstream. Sie fallen auf, provozieren und gehen in einer Gemeinschaft auf, in der sie sich stark fühlen können."
Die NRJ besucht "Heldengedenken" und "Stützpunktabende", nimmt an "Leistungsmärschen" und "nationalrevolutionären Zeltlagern" teil. Heute einen Infostand betreuen, morgen Flugblätter verteilen. Um einschätzen zu können, wo und wie häufig Flugblätter im Südwesten verteilt werden, hat Kontext die Social-Media-Kanäle der Partei ausgewertet. Alleine 2025 werden rund 60 Orte genannt. Besonders häufig Orte im Landkreis Ludwigsburg und im Rems-Murr-Kreis. Letzterer ist traditionell eine Hochburg der extremen Rechten: von den Republikanern in den 1990er-Jahren bis zur AfD in der Gegenwart.
Der Aktivismus ist bei der NRJ kein Teil des Alltags, er ist der Alltag. Was das individuelle Leben eines jungen Menschen zählt, wird im "Handbuch für Aktivisten unserer Bewegung" deutlich. "Der Nationalrevolutionär folgt dem Ideal des Kämpfers und politischen Soldaten", heißt es. Der "Kampf um den Fortbestand unseres Volkes" habe Priorität. Man sehe "im restlosen Einsatz" für das Volk eine "heilige Pflicht". Kurzum: Du bist nichts, dein Volk ist alles.
Männer, Männer, Männer
"Die Organisation bietet Gemeinschaft und Identität, aber auch ein Feindbild an, an dem man sich abarbeiten kann und dessen Existenz den eigenen Zusammenhalt stärkt", sagt Frankenberger. Im "Handbuch der revolutionären Jugend", das 2021 erschienen ist, schreibt Der Dritte Weg: "Der Liberalismus ist unser Hauptfeind." Denn: "Es ist der Liberalismus, der unsere Kultur zersetzt, es ist der Liberalismus, der unsere Heimat mit Millionen Fremden überflutet, und es ist der Liberalismus, der unsere Identität vernichtet."
Die Partei verachtet die liberale Demokratie. Es heißt, man sei "im Krieg gegen ein Scheißsystem". Man wolle "dieses System begraben" und trete "offen als seine Feinde auf". Mehr Verachtung geht kaum. Fasziniert blickt Der Dritte Weg auf die "Kampfjahre", die Jahre vor 1933, zurück: "Schon Jahre, bevor die nationale Revolution die Macht über das ganze Land ergriff, hatte der Nationalismus die Universitäten und die gesamte junge Generation erobert", heißt es. "Nationale Revolution" – damit ist Hitlers Machtübernahme gemeint.
Die Partei schreibt, die Jugend habe das "neue Deutschland" geschaffen und im Weltkrieg verteidigt. Ausdrücklich rühmt sie die SS-Panzer-Division "Hitlerjugend". Das Soldatische, Martialische, Kriegerische spricht hauptsächlich Männer an. Dass die NRJ im Wesentlichen aus jungen Männern besteht, konnte nicht nur in Bad Mergentheim, sondern auch in Suhl, einer Kleinstadt in Thüringen, beobachtet werden. Dort veranstaltete Der Dritte Weg am 1. Mai einen Demonstrationszug. Im Kalender ist der "Arbeiterkampftag" ein fester Termin. Ein Pflichttermin.
An der Versammlung nahmen 220 Neonazis teil. Größtenteils Jugendliche und junge Erwachsene, einige aus Baden-Württemberg. Kontext hat Fotos der Demonstration ausgewertet, um Aussagen über das Geschlechterverhältnis der Teilnehmer:innen machen zu können. Das Ergebnis: Etwa 90 Prozent Männer, 10 Prozent Frauen. Martialisch ist ein Kurzvideo zur Versammlung, das die Partei in den sozialen Medien verbreitete, gestaltet: Männer, die marschieren, die Parolen rufen, die Fahnen und Schilder tragen. Männer, die Reden halten, und ein Mann, der über den "Arbeiterkampftag" rappt.
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