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Kriegsdienstverweigerung in Russland

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Kriegsdienstverweigerung in Russland: Tipps per Telegram
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Formal existiert auch in Russland das Recht, den Militärdienst zu verweigern. Das Putin-Regime geht damit freilich nicht hausieren. Tausende junge Männer haben das Land verlassen, um nicht eingezogen zu werden. Deutschland gewährt ihnen meist kein Asyl. Zwei russische Anwälte im Exil bieten den Kriegsdienstverweigerern Hilfe.

Sascha Belik trägt die gewellten dunkelblonden Haare bis knapp über die Schultern, darunter schimmern Ohrringe in Pilzform wie Perlmutt. Seine Augen blicken aus der blassen Miene oft in die Leere oder auf den Bildschirm seines Mobiltelefons. Was dem 28-jährigen Russen durch den Kopf gehen mag? Neben ihm sitzt in der Kontext-Redaktion sein gleichaltriger Landsmann Artem Klyga, seine blonden Haare trägt er kürzer und mit Seitenscheitel. Auf seinem schwarzen Hoodie ist der russische Journalist Oleg Kaschin zu sehen. Mit ihm eint die beiden ein Schicksal: Sie leben im Exil.

Belik und Klyga sind Juristen, beide setzten sich ein für russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, und beide haben 2022 ihr Heimatland verlassen. Derzeit sind sie mit diesem Thema auf Tour durch Deutschland. Vergangenen Mittwoch, 22. Oktober, saßen sie auf dem Podium der Stettener Glockenkelter, wenige Kilometer östlich von Stuttgart, eingeladen hatten unter anderem die Vereine Die AnStifter und Allmende Stetten sowie Pax Christi.

Die Tour ist Teil einer Anti-Kriegskampagne des 1993 gegründeten Vereins Connection mit Sitz in Offenbach am Main, der sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzt. Seit März ist Klyga, der sich als Anwalt auf Militärrecht spezialisiert hat, dort Mitarbeiter, berät Verweigerer und betreibt Lobbyarbeit bei internationalen Organisationen und Staatenbündnissen wie den UN, EU und OSZE.

Raus aus Russland

Bis September 2022 lebte Artem Klyga noch in seiner Heimat: Moskau. Noch nach Kriegsbeginn im Februar konnte er als Militäranwalt Menschen bei der Verweigerung unterstützen, hatte dabei oft mit staatlichen Stellen auf lokaler Ebene zu tun, erzählt er. Das sei bis dahin, ein halbes Jahr nach dem Angriff auf die Ukraine, noch möglich gewesen. Am 21. September kündigte Putin dann die "Teilmobilmachung" an, 300.000 Reservisten sollten eingezogen werden. Auch Klyga wurde aufgefordert, den Dienst an der Waffe anzutreten. Für ihn war damit der Zeitpunkt gekommen, das Land zu verlassen: mit dem Zug nach Sibirien, dann Kasachstan, von dort nach Taschkent, die Hauptstadt Usbekistans. "Viele sprechen russisch, das war hilfreich", sagt er, wie Belik spricht er englisch. Mit Hilfe früherer Kooperationspartner landete er im Mai 2023 schließlich in Deutschland, zunächst in Frankfurt am Main, jetzt lebt er in Hanau.

Sascha Belik studierte Jura in Sankt Petersburg, unmittelbar nach Kriegsbeginn verließ er das Land. Seit zehn Jahren arbeitet er schon für die NGO "Stop Army", bis April war er ihr Geschäftsführer. Sie wurde 2013 gegründet und ist quasi ein russisches Pendant zum deutschen Verein Connection: Inzwischen haben sich laut Belik über 1.000 Kriegsdienstverweigerer zusammengefunden. Die russische Regierung hat 2023 die Organisation, wie auch Belik als Privatperson, als "ausländische Agenten" eingestuft. Er verließ das Land über die Landgrenze nach Estland, indem er sich einen Termin bei einem Arzt dort besorgte. Andernfalls hätte er das Land nicht verlassen dürfen, erzählt er – nicht wegen des Krieges, sondern wegen der Coronamaßnahmen. Seit 2023 lebt und arbeitet er in der polnischen Hauptstadt Warschau.

Männer zwischen 18 und 30 Jahren müssen in Russland Wehrdienst leisten, immer im Frühjahr und im Herbst werden Wehrpflichtige eingezogen. An der Front und im Ausland sollen sie nicht kämpfen, hat Putin versprochen. Viele werden aber auf der Krim und in der Ostukraine stationiert – es gilt schließlich aus Sicht des russischen Regimes als eigenes Staatsgebiet. Offiziell dauert die Wehrpflicht ein Jahr. Aber immer wieder wird berichtet, dass im Anschluss viele dazu genötigt werden, einen Vertrag mit der Armee zu unterzeichnen und Berufssoldat zu werden. Oder sie werden als Reservisten sofort wieder eingezogen.

Beraten per Chat, spenden via Krypto

Was viele nicht wissen: Im 59. Artikel der russischen Verfassung ist zwar einerseits die Wehrpflicht verankert, andererseits aber auch die Möglichkeit, sie aus Glaubens- und Gewissensgründen zu verweigern und stattdessen Zivildienst zu leisten, ähnlich wie im deutschen Grundgesetz. Putins Regime hängt das natürlich nicht an die große Glocke, im Gegenteil: Bei den Einzugswellen werden die Anträge auf Zivildienst häufig missachtet und die Männer in die Armee gesteckt, bevor ein Gericht sich überhaupt mit ihnen befassen kann.

"Stop Army" will in Russland die Menschen über ihr Recht, den Kriegsdienst zu verweigern, aufklären und Tipps liefern, wie am besten vorzugehen ist. Zwar ist ihre Webseite in Russland blockiert, aber dennoch erhält sie laut eigenen Angaben monatlich über 500 Anfragen: ausgerechnet über Telegram, einer russischen Chatapp, die hierzulande vielen bekannt ist als Verbreitungsstätte für Desinformation und Fake News. Über 50.000 Menschen folgen dort dem Kanal der Bewegung. "Über unsere Medienkanäle liefern wir wahre Informationen über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung", sagt Sascha Belik. Anders als es die staatlich kontrollierten Medien machen würden. Mit Hilfe eines Chatbots werden Anfragen beantwortet, erfolgreiche Verweigerer schildern von ihren Erfahrungen und geben Tipps, verbreiten Informationen der Broschüren von "Stop Army".

Die Organisation finanziert sich über Spenden, hat ein Bankkonto in Finnland, aber wirbt auch um Spenden mit Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum. Rund 30 Aktive arbeiteten laut Sascha derzeit für "Stop Army", Freiwillige und Angestellte. Einige von ihnen leben nach wie vor in Russland. Spendenzahlungen sind auch noch in Rubel möglich, sagt Belik: Obwohl sie als "ausländische Agenten" gelten, ist die Organisation und ihre Arbeit nicht verboten. Bei der Repression des Regimes gebe es mehrere Stufen, "wir stehen auf der ersten", sagt Belik: vom Status als ausländischer Agent hin zur unerwünschten Organisation und schließlich die Einstufung als extremistische oder terroristische Organisation.

Kein Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer

"Ich weiß nicht warum, aber sie attackieren noch nicht so stark Organisationen, die Wehrdienstverweigerern und Deserteuren helfen", sagt auch Artem Klyga. Dessen Aufenthaltstitel hier in Deutschland ist drei Jahre gültig, bald muss er die Verlängerung beantragen. Als Reaktion auf die Mobilmachung im November 2022 erklärte die damalige deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD), dass man russischen Deserteuren Asyl gewähren wolle. Und der Justizminister Marco Buschmann (FDP) verkündete: "Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen." Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) antwortete in einem Interview auf die Frage, ob man diejenigen aufnehmen sollte, die in Russland die Einberufung verweigern: "Ich bin dafür, diesen Menschen Schutz anzubieten."

In der Praxis sah das in vielen Fällen aber anders aus. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger brachte bereits vor zwei Jahren mit einer Frage ans Innenministerium Zahlen dazu ans Licht: Von fast 3.500 gestellten Asylanträgen, die russische Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren zwischen Kriegsbeginn und Ende August 2023 gestellt hatten, wurden nur 92 positiv beschieden. Die Tendenz hat sich nicht geändert, ergibt eine Anfrage der Kontext-Redaktion beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Seit Kriegsbeginn haben inzwischen 6.679 russische Männern aus der gleichen Altersgruppe einen Asylantrag in gestellt. Weniger als 350 erhielten einen Schutzstatus, in zwei Fällen hat die Behörde ein Abschiebeverbot ausgesprochen. Rund 2.150 Fälle listet das Amt unter "formeller Verfahrenserledigung", meist bedeutet das eine Ablehnung aufgrund der Dublin-Verordnung. Eine Sprecherin erklärt, es lasse sich "keine Aussage hinsichtlich Desertion oder Kriegsdienstverweigerung als Asylantragsgrund" treffen.

Das zuständige BAMF begründe ablehnende Asylbescheide mit Aussagen von Putin und falschen Einschätzungen, erklärt Klyga. Etwa, dass die Männer in Sicherheit wären, wenn sie zurück in Russland einfach in ein anderes Gebiet ziehen. Anfangs ging der russische Anwalt von Fehlern bei den Verfahren aus. "Jetzt bin ich sicher, dass es eine politische Entscheidung ist", sagt er.

Einige Russen, denen ein Schutzstatus verweigert wurde, haben daraufhin den Rechtsweg beschritten. Oft gaben die Gerichte ihnen Recht und bemängelten die Begründungen des BAMF. Ende Januar 2025 entschied etwa das Verwaltungsgericht Berlin nach einer Klage von zwei Russen: "Die Bundesrepublik Deutschland muss russische Männer, die befürchten, zum Grundwehrdienst eingezogen und anschließend im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden, als subsidiär schutzberechtigt anerkennen." Es sei "beachtlich wahrscheinlich", dass sie "in absehbarer Zeit gegen ihren Willen zum Grundwehrdienst in der russischen Armee einberufen und in den Ukraine-Krieg entsandt werden". Dort müssten sie damit rechnen, zwangsweise an "völkerrechtswidrigen und/oder menschenrechtswidrigen Handlungen" teilnehmen zu müssen oder "schwersten Schaden an Leib und Leben zu erleiden".

Krieg wird romantisiert

Ein Onkel Klygas kämpft seit drei Jahren im Krieg. Auf den Rat seines Neffen wollte er nicht hören. Dass er noch lebt, sei reines Glück, sagen die zwei Russen im Exil. Der Krieg habe bei seinem Onkel Spuren hinterlassen, schildert Klyga, er trinke jetzt viel Alkohol. Während in alten Sowjetfilmen der Krieg noch als Horror dargestellt worden sei, habe sich das unter Putin geändert. Soldaten würden als "Helden" inszeniert, der Krieg sei mehr zum "Abenteuer" geworden, "wie ein Sommercamp". Wichtig in der Erzählung sei, "dass du zurückkommen wirst, dass du leben wirst, deine Frau, deine Eltern, deine Kinder siehst und alles gut wird", sagt Klyga. Ein trügerisches Versprechen.

Auch in der EU nehme Klyga nun diese Tendenz wahr, dass der Dienst an der Waffe medial aufpoliert werde. Er bezieht sich auf PR-Videos wie die der Bundeswehr oder der finnischen Armee, die er gesehen hat: Männer in Uniform und mit Waffe verbringen Zeit zusammen im Panzer – "sie lächeln, und das ist Romantisierung". Diese schleichende Militarisierung beunruhige ihn sehr.

Ob er denn kein Verständnis dafür habe, sich verteidigen zu wollen, angesichts der Bedrohung durch Putin? "Wenn du vorbereitet sein willst, kannst du natürlich eine Vertragsarmee aufstellen", meint Klyga. Aber wenn ein Staat zum Menschenrechtssystem, das sich im vergangenen Jahrhundert etabliert hat, gehören wolle, muss er Möglichkeiten bieten für all jene, die nicht mitmachen wollen. Für alle, die keinen Dienst an der Waffe antreten möchten.

Manchmal träume er davon, sagt Klyga, dass er nach Russland zurückkehren könne, wenn alles vorbei ist, um dort ein neues Parlament ohne Putin zu beraten, damit es keine Wehrpflicht mehr gibt. Aber das sei nur ein Traum, davon will er sich gerade nicht ablenken lassen. Klyga geht davon aus, dass selbst nach Putins Tod eine Rückkehr nicht möglich sein werde. "Ich glaube, ich werde in Deutschland sterben." Sascha Belik hegt einen ähnlichen Wunsch, wäre gerne Mitglied in einem künftigen russischen Parlament. Für die nächsten Jahre geht er aber davon aus, weiter in Polen für Menschenrechtsorganisationen zu arbeiten.

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