Im Ideal ist Journalismus kritisch, couragiert und unabhängig. In der Praxis beschränkt oft bereits der Blick in die Kasse die Freiheit der Berichterstattung: Viele Recherchen wären spannend und wichtig – aber zu teuer. Ein treuer Kontext-Leser hat zum Beispiel einmal angeregt, unsere Redaktion solle aus Tibet über die dortige Menschenrechtslage berichten. Würden wir auch gerne. Aber als spendenfinanzierte Lokalzeitung ist es schwierig, die Spesen zu verantworten. Die Frage nach Aufwand und Ertrag stellt sich aber auch im viel kleineren Maßstab – zum Beispiel beklagen Landräte aus Baden-Württemberg immer leerere Pressebänke. Und mit jeder unbesetzten Sitzung eines politischen Gremiums bröckelt ein kleines Stück Demokratie: Weil die Öffentlichkeit ihre Kontrollfunktion nicht wahrnimmt. Aber lohnt es sich wirklich, einen Reporter für vier oder fünf Stunden irgendwo hinzuschicken, wenn ein in wenigen Minuten leicht umformulierter Polizeibericht vermutlich mehr Klicks bringt?
Die ökonomischen Faktoren liefern zudem einen Anreiz für die Branche, die Finger von heiklen Themen lassen. Denn bei solchen gibt es gerne mal Menschen oder Unternehmen, die sich angegriffen fühlen und dann gegen die Berichterstattung klagen. Und so eine Klage kann ganz schön ins Geld gehen – auch wenn sie vor Gericht vielleicht gar nicht erfolgreich wäre, sorgt allein die Drohkulisse des Prozesskostenrisikos dafür, dass viele Auseinandersetzungen vermieden werden. SLAPP-Klagen nennt man das – strategic lawsuit against public participation. Auf deutsch: strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung.
Damit haben auch wir Erfahrung. Als die Kontext-Redaktion vor nunmehr siebeneinhalb Jahren, im Mai 2018, Auszüge aus den privaten Chatnachrichten eines Neonazis veröffentlichte, dauerte es nicht lange, bis dieser klagte. Wir haben wir uns auf einen langen und teuren Rechtsstreit eingestellt. Und waren trotzdem überrascht, dass der Streitwert schließlich mit dem letzten Urteil auf astronomische 480.000 Euro hochgesetzt worden ist.
Zweimal haben Gerichte bislang zu unseren Gunsten entschieden, das OLG Frankfurt zuletzt allerdings nicht (Kontext berichtete). Nach dessen Urteil im März 2025, gegen das wir Beschwerde vor dem Bundesgerichtshof eingereicht haben, steckte unsere Redaktion finanziell in der Bredouille – jedenfalls für ein paar Wochen. Doch eine notgedrungen geführte Spendenkampagne lief dank unserer großartigen Community so gut, dass nicht nur die Prozesskosten für weitere Instanzen abgesichert sind. Es kam sogar mehr Geld zusammen, als wir zu hoffen gewagt hatten. Und diese unverhofften finanziellen Mittel haben wir flugs in einen Recherchepool gesteckt, um rechtsextreme Strukturen in Baden-Württemberg noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Nun ist es bald so weit: In der ersten Novemberhälfte starten die ersten Veröffentlichungen aus dem Projekt. Wir bedanken uns herzlich bei allen, die es durch ihren Beitrag möglich gemacht haben. Zum Auftakt geht es unter anderem um auffällige Polizeibeamt:innen in den Reihen der AfD.
Kontext in der Manufaktur
Und in diesem Zusammenhang wollen wir auch auf eine Veranstaltung hinweisen: Kontext-Redakteur Minh Schredle ist am 6. November zu Gast in der Schorndorfer Manufaktur, um über "Gefährliche Zeiten für die Pressefreiheit" zu referieren – auch am eigenen Beispiel. Nach einem Vortrag folgt ein Gespräch mit dem Journalisten Alexander Roth, der beim Zeitungsverlag Waiblingen seit Jahren rechte Umtriebe im Lokalen beleuchtet. Los geht es um 20 Uhr.




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