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Ethnologe Thomas Michel

Allein unter Kannibalen

Ethnologe Thomas Michel: Allein unter Kannibalen
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Der Ethnologe Thomas Michel hat schon mit dem Dalai Lama Tee getrunken und im Namen der Wissenschaft Menschenfleisch gegessen. Heute bietet er seinen preisgekrönten Wein in der ältesten Besenwirtschaft Stuttgarts an.

Wenn Thomas Michel heute von seinen Abenteuern im Urwald erzählt, fällt es schwer zu glauben, dass sein Lebensmittelpunkt einmal der Finanzmarkt war. Zum Redaktionsgespräch kommt er im schlichten T-Shirt, er trägt einen Walrossschnauzer, die Haare sind grau, in seinem Blick liegt etwas Spitzbübisches. Vom Klischeebild eines Börsianers ist er ziemlich weit entfernt. Aber vor über einem halben Jahrhundert stieg er tatsächlich als Makler in Melbourne ins Berufsleben ein, nachdem er in Frankfurt Volkswirtschaftslehre studiert hatte. "Der Senior-Chief von diesem Börsenmarklerbüro war einer der ersten Goldgräber in Neuguinea", erzählt Michel.

Sein Vorgesetzter hatte viele Schwarz-Weiß-Filme von seinen Reisen gedreht, was im Geschäft auf überschaubares Interesse stieß – mit einer Ausnahme: Thomas Michel wollte sie sehen. Er sparte und flog wenig später selbst auf die Insel Neuguinea, deren westlicher Teil zu Indonesien gehört. Die Reise wurde zur Zäsur. "Ich bin zurück nach Deutschland an die Uni in Frankfurt und habe geguckt: Gibt es da so ein Fach wie Völkerkunde?" Und das gab es tatsächlich. "Mit ganz wenigen Studenten, das war damals noch nicht so bekannt. Und dann, das war 1971, habe ich mich eingeschrieben und einen Vortrag gehalten über Neuguinea." Kurz darauf habe ihn ein Professor gebeten, mal zu ihm in sein Büro zu kommen, "er habe da eine interessante Geschichte für mich". Angesiedelt beim Berliner Völkerkundemuseum und der Deutschen Forschungsgesellschaft laufe gerade ein großes Projekt an: die Erforschung der letzten Kannibalen im Hochland von Neuguinea. Eigentlich eine Aufgabe für Fortgeschrittene, für Professoren und Doktoren. Aber Michel war der einzige Student, der schon mal vor Ort war und der Professor selbst war erst seit Kurzem an der Uni. "Er sagte, er könne jetzt nicht für zwei Jahre in den Urwald. Also hat er mich gebeten, ihn zu vertreten." Es gab nur noch eine Hürde: Teilnahmebedingung war, dass man mindestens Doktorand ist. "Also hat er mich im ersten Semester zum Doktoranden gemacht."

Erst nach seiner Landung in der indonesischen Hauptstadt Jakarta erfuhr Michel, dass in seinem Forschungsgebiet sechs Wochen zuvor 13 holländische Missionare getötet und gegessen worden waren. "War so üblich damals", sagt Michel trocken. Damals, noch keine 30 Jahre alt, habe diese Information "schon für mulmige Gefühle gesorgt". Doch die Neugier war zu groß. "Ich war ja alleine unterwegs, also keine Gefahr für die Einheimischen", sagt Michel, für den der Gedanke selbstverständlich ist, dass vielleicht auch die andere Seite Angst haben könnte.

Michels Hütte war wie ein Kino

Im Tal, das er untersuchen wollte, gab es ein paar kleine Dörfer, insgesamt von etwa 300 Menschen bewohnt. Michel schlug ein Zelt in Sichtweite eines Dorfs auf. "Dann habe ich gewartet, bis Leute kommen und das war auch recht schnell der Fall. Sie haben mich ins Dorf mitgenommen und mir eine eigene Hütte gebaut." Michel entschied sich für eine Hanglage mit Panoramablick auf das Tal. "In der Mitte war die Feuerstelle, die ganze Hütte hatte einen Durchmesser von etwa 2,50 Meter. Der hintere Teil war groß genug für meine Luftmatratze, und auch meine ganze Technik hatte Platz: meine Schreibmaschine, meine Kerosin-Lampe, das Kamera-Equipment, ein kleiner Generator, viele Akkus." Schnell entwickelte sich Michels neues Domizil zur Massenattraktion. "Es war für die sozusagen das Kino, was ich da mache."

Im Dorf war die Technik buchstäblich in der Steinzeit stehen geblieben: Metallische Geräte gab es ebenso wenig wie Kleidung. Michel hat holländischen Tabak und geröstete Erdnüsse mit den Einheimischen geteilt, aber darauf geachtet, dass es sich immer um Verbrauchsmaterial handelt: "Sie haben keine Messer oder sowas von mir bekommen, weil ich ja ihre Traditionen dokumentieren wollte. Zum Beispiel haben sie ihre Gärten mit Steinbeilen angelegt." Heute, seufzt der Ethnologe, ist die Moderne im Dorf eingezogen und Kettensägen setzen dem Urwald zu.

Michel schildert das ohne nostalgische Verklärung. Er behauptet nicht, früher sei alles besser gewesen. Aber er hat Mitgefühl mit den Dorfbewohnern, die kurz nach seiner Abreise christlich missioniert wurden, nun den Islam aufgedrängt bekommen und ihre alte Kultur fast spurlos verloren haben. In den 1970er-Jahren kannten sie noch keine Schrift. Und die mündlichen Überlieferungen sind heute verstummt. Die einzigen Dokumente, die an die Vergangenheit erinnern, sind Michels Aufschriebe, Tonbandaufnahmen und 12.000 Dias, die in Archiven schlummern.

Sprache lernen mit Kleinkindern

Dass sich der Ethnologe überhaupt mit den Einheimischen austauschen konnte, ist beeindruckend – immerhin war er ohne Dolmetscher unterwegs. "Ich habe mich mit Kleinkindern, also mit Zweijährigen, und mit ihren Müttern zusammengesetzt. Die haben immer einzelne Wörter gesagt, ich habe mitgeschrieben." Einige Monate hat es gedauert, bis Michel einfache Sätze verstand. Als er nach viereinhalb Jahren abreiste, konnte er rituelle Texte übersetzen: alte Mythen und Erzählungen über den Ursprung und das Ende der Menschheit, über den großen Regen, der eines Tages die Steine ins Tal spülen wird, bis alle Spuren von menschlicher Kultur verwaschen sind. "Eine sehr realistische Annahme", kommentiert Michel.

Der junge Forscher lebte im Dorf ziemlich abgeschieden: Seine Fotos, Filme und Berichte schickte er in verplombten Säcken nach Deutschland, Briefe brauchten mindestens drei Monate, um anzukommen, ein Telefon gab es nicht. Zu Michels Ausrüstung im Dschungel gehörte auch ein Funkgerät der deutschen Polizei. "Das war eigentlich strafbar, ich habe es durchgeschmuggelt. Ein Riesending. Jedenfalls konnte ich damit bis zur Küste funken, die war etwa 250 Kilometer entfernt." Dort hat Michel regelmäßig Essenslieferungen beauftragt – Müsli, Rosinen, Milchpulver, Konservenbüchsen –, die per Flugzeug nahe des Dorfs abgeworfen wurden. Um aber nicht nur von Dosenfutter abhängig zu sein, "habe ich auch versucht, all das zu essen, was die Einheimischen essen". Proteine, die es für die anstrengenden Wanderungen im Hochland braucht, lieferte "alles, was da so rumgekreucht ist: Heuschrecken, Würmer. Hat gelangt für eine gesunde Ernährung". Ergänzt von Pilzen, erlegten Tieren, Süßkartoffeln, Zuckerrohr und Bananen aus eigenem Anbau. Menschenfleisch gab es nur zu besonderen Anlässen.

Ein guter Club verträgt einen Kannibalen

Über Kannibalismus kursieren viele Gerüchte und Fehlannahmen. Verbreitet ist die Vorstellung, der Verzehr erfolge aus existenzieller Not und dass vielleicht ausgeknobelt wird, wer sein Bein aufgibt, damit die Überlebenschancen der Gruppe steigen. Aber im Hochland von Neuguinea wurden Menschen nicht aus Mangel gegessen. "Verzehrt wurden getötete Feinde, um Geist und Körper total zu vernichten", klärt Michel auf. Wenn Verwandte eines Gegessenen mitbekommen haben, dass einer der ihrigen zum Festmahl wurde, "war das das Schlimmste, was einem passieren konnte".

Es kam allerdings auch nicht alle Tage vor. Michel hat während seines Aufenthalts einmal die Zubereitung bezeugt. Im Stammeskrieg mit einem Nachbardorf ist ein feindlicher Krieger gefallen und die Hinterbliebenen haben es nicht rechtzeitig geschafft, den Leichnam zu sichern. "Und dann wurde der Getötete zubereitet: Zuerst wird ein Erdofen gebuddelt, da kommen Bananenblätter rein und heiße Steine, dann der zerkleinerte Leichnam, Süßkartoffeln und Gemüse. Und das wird dann etwa vier Stunden gegart."

Mitessen zu dürfen war eine große Ehre, Frauen und Kinder haben nichts abgekriegt. Ehrengast Michel wurde hingegen eines der begehrtesten Stücke angeboten: ein Augapfel. "Das konnte ich nicht", betont er. "Also habe ich gesagt, ich hätte lieber ein Stück vom Oberschenkel." Michel hat das Fleisch noch einmal auf einen Holzstab gesteckt und über der Glut richtig durchgebraten, bis es an einigen Stellen schwarz verkohlt, aber unterm Strich noch essbar war.

"Wenn ich gesagt hätte, ich esse nicht mit, hätte ich nach Hause fahren können, sie hätten mich ausgeschlossen aus ihrer Gemeinschaft. Und auch nichts mehr erzählt über ihre Kultur. Das hätte sie beleidigt. Weil es eine Ehre war." Menschliches Fleisch schmecke dem von Schweinen übrigens ziemlich ähnlich, man liege ja auch genetisch nah beieinander. Jahre später, als er in den Club der Rotarier aufgenommen werden wollte, hakten die beim ersten Vorstellungsgespräch nach, ob er denn mitgegessen habe. "Sie haben mich trotzdem aufgenommen." Ein guter Klub muss einen Kannibalen vertragen, habe einer gesagt.

Vieles von dem, was Michel gesehen hat, war schwer zu verarbeiten. Insgesamt lobt er das Sozialleben im Dorf als vorbildlich. Einmal hat er aber auch die Tötung einer vermeintlichen Hexe gefilmt. Ursprünglich war das Forschungsprojekt auf zwei Jahre angesetzt. Geblieben ist er viereinhalb – bis ein schweres Erdbeben 1976 die Region erschütterte. Etwa um vier Uhr morgens rumpelte es fürchterlich. Michel ist noch rechtzeitig heraus aus seiner Hütte, bevor die Hälfte davon den Hang herunterschmierte. Über das Funkgerät konnte er Rettungshubschrauber kontaktieren, die Überlebenden haben mit Steinbeilen Gestrüpp für eine Landefläche gerodet und nasse Blätter für eine riesige Rauchsäule verbrannt.

Allzu offene Worte führten zum Rausschmiss

Als einziger Mann aus dem Westen war Michel ein gefragter Ansprechpartner für internationale Medien, die über die Katastrophe berichteten. Nachdem er gegenüber der Presse ausgeplaudert hatte, dass die christlichen Missionare nur denjenigen helfen wollten, die sich zum gekreuzigten Heiland bekennen, war die Aufregung riesig. Unter anderem stand es auf der Titelseite der "Washington Post", ein Skandal – und Michel wurde zur Persona non grata. "Nach diesem Artikel haben die Missionare unheimlich starken Einfluss auf die indonesische Regierung ausgeübt. Und die hat wiederum den deutschen Botschafter informiert, dass ich sofort das Land verlassen soll. Dann kam eine Mitteilung an mich, dass das Projekt beendet ist und ich packen soll."

Nach einer kurzen Auszeit zuhause hat sich Michel an seine Promotion gesetzt über die letzten Kannibalen in Neuguinea. Die Doktorarbeit ist so gut angekommen, dass ihn zwei Wochen nach der Veröffentlichung die Leiterin des Völkerkundlichen Instituts an der Uni Köln angerufen hat – "sie hatten dort eine Dozentenstelle für mich." Immer wieder war er für Forschungsaufenthalte im Ausland, etwa in Japan, Südkorea, Russland, Tahiti und Namibia, auch Papua-Neuguinea besucht er alle paar Jahre, zuletzt im April. Der Kannibalismus ist inzwischen Geschichte, aber unter bekehrten Christen werden noch mehrere "Hexen" pro Jahr getötet.

Nach Michels Abreise waren die Missionare im Tal schnell erfolgreich, "nachdem sie gesehen haben, okay, ich bin da nicht aufgegessen worden". Aus den kleinen Dörfern ist inzwischen ein größeres Konglomerat geworden, die Bevölkerung hat sich gegenüber den 1970ern verfünfzehnfacht. Es gibt eine asphaltierte Landepiste für Flugzeuge, eine große Klinik, eine weiterführende Schule, eine Polizeistation – und extremen Neid bei den Dörfern im Umland, die leer ausgehen und überhaupt nichts haben. "Das ist einer der Gründe, warum die Stammeskriege andauern."

Sechs von sieben Goldmedaillen

1991 suchte das niedersächsische Landesmuseum in Hannover einen neuen Direktor, Michels Bewerbung war erfolgreich. "Ein Jahr später ist dann entschieden worden, dass die Weltausstellung 2000 nach Hannover kommt." Im Zuge der Expo ist wahnsinnig viel Geld in die Stadt geflossen, unter anderem wurde ein tibetischer Tempel gebaut. Den hat sich auch der Dalai Lama angeguckt, "ich habe oft mit ihm Tee getrunken", erzählt Michel. Als die Weltausstellung vorbei war, "hat meine Frau, die Schwäbin ist, gesagt, komm doch mal wieder in unsere Heimat zurück. Und da war gerade eine Stelle als Direktor am Stuttgarter Lindenmuseum frei". Diese Position hat Michel bis zu seiner Pensionierung 2009 bekleidet.

Von seinem Büro aus hatte er einen schönen Blick auf den Degerlocher Scharrenberg mit seinen Weinreben. Und kurz darauf kaufte er sich ein günstiges Weingut. Allerdings war er völlig ahnungslos, was den Weinbau angeht, hat unbeholfen herumgeschnitten, bis sein Nachbar Mitleid bekam: Eberhard Gauder, Betreiber einer Besenwirtschaft in Degerloch. "Ich wurde zu seinem Lehrling", freut sich Michel. Und als Gauder 74 war, hat er nach einem Nachfolger für seinen Besen auf dem Haigst gesucht, der zu dem Zeitpunkt schon vier Jahre geschlossen hatte.

Am 28. Dezember 2009 hat der alte Besen wieder aufgemacht. "Die ganze Straße war voll mit hunderten Leuten, drinnen konnte man sich gar nicht mehr bewegen. Aber es hat sich dann zum Glück gelegt, so viel war nie mehr los wie am ersten Tag." In zwei Jahren steht das hundertste Jubiläum von "Michels Gauder Besen" an, der ältesten Besenwirtschaft in Stuttgart – mit ausgezeichneter Qualität: Er habe insgesamt sieben Weine bei der Landesprämierung eingereicht und sechs Mal die Goldmedaille gewonnen, erzählt Michel stolz.


Hinweis: Am 22. Oktober referiert Michel um 20 Uhr in der Stuttgarter Markuskirche, im Saal unter der Empore. "Michels Gauder Besen" macht gerade Pause und hat ab Ende Oktober wieder geöffnet.

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