KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Waschbär im Visier

"Putzig, aber brandgefährlich"

Waschbär im Visier: "Putzig, aber brandgefährlich"
|

Datum:

Das Klischee hält sich hartnäckig: Der Waschbär ist ein nettes Kerlchen. Nachdem er im dringenden Verdacht steht, einer Stuttgarter Galeristin ein Fingerglied abgebissen zu haben, ändert sich das Bild. Besonders empört ist die FDP.

Wie der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Waschbären steht, ist unbekannt. Vermutlich Nabu-nah, also leben lassen. Von Manuel Hagel, dem CDU-Chef im Land, ist auch nichts überliefert. Als Waidmann wird er für Feuer frei sein, aber das nicht sagen, wegen der Millionen Insta-Waschbär-Fans. Natürlich ist er ein idealer Partner für die FDP. In fürstlichen Forsten spannt er gern die Büchse.

Die Freie Demokratische Partei ist für eine "Mobilmachung", wie die "Waiblinger Zeitung" schreibt, für eine schonungslose Jagd. Alles andere erscheint ihr als "grüne Ideologie", in der Jägersleute als "mordlüsterne Tierquäler" gehandelt werden. So hat es die Partei im Bundestag gesagt, als sie dort noch Sitz und Stimme hatte.

In Baden-Württemberg ist sie noch da und stellt sich die bange Frage, ob der Waschbär schon "auf der Siegerstraße" ist? Solcherlei Verdächte prägten in der vergangenen Woche einen "Web-Talk", zu dem wissenschaftliches Fachpersonal geladen war, ein Stadtjäger sowie Klaus Hoher, der jagdpolitische Sprecher der FDP-Fraktion. Der 57-jährige Landwirt ("schaffe statt schwätza") redet nicht lange drum herum, verlangt nach Kopfprämien, durchgängiger Bejagung und waidmännischer Erledigung. Fangen, erlegen und guten Pelz draus machen.

Auch die FDP mag Zorro nicht mehr

Eine Waschbärjacke würde er jederzeit tragen, verspricht Hoher, das sei immer noch besser als ein Fleece aus Erdöl. Der Regierung wirft er Untätigkeit vor, sie lasse das Volk mit der Plage allein, aus lauter Angst, sich bei den Freunden der "beliebten Erscheinung" unbeliebt zu machen. "Und wenn nichts mehr hilft", glaubt er, "hilft der liebe Gott". Der Mann kommt aus Salem in Oberschwaben.

Hotspot Ostalb

Belastbare Daten zur gesamten Waschbär-Population in Baden-Württemberg gibt es nicht. Wildtierbeauftragte sprechen von mindestens 140.000. Gezählt werden nur die erlegten Tiere, die als sogenannte Jagdstrecke ausgewiesen wird. Für 2024 werden landesweit 9.174 Waschbären notiert, im Jahr zuvor waren es noch 6.322, in 2018 werden 2.533 genannt. Als Hotspots gelten die Ostalb (2.221), der Kreis Schwäbisch-Hall (1.798) und Rems-Murr (1.441).

 In Stuttgart ist die invasive Spezies noch überschaubar, doch auch hier werden es immer mehr. Auf Kontext-Anfrage listet das Rathaus im Jahr 2020/21 noch 17 erlegte Tiere auf, vier Jahre später sind es 96. Die Stadtverwaltung leitet daraus eine "gewisse Gewöhnung" an den Menschen ab und empfiehlt, Zugänge zu Haus und Dach, Mülltonnen und Komposthaufen zu sichern, Fallobst einsammeln, Katzen- und Vogelfutter zu entfernen sowie Äste zu kürzen. Bei Misserfolg stünden Stadtjäger bereit, die mit Lebendfallen anrücken und die Tiere anschließend erschießen. Eine "Vergrämungsstrategie" gebe es nicht.  (jof)

Warum ausgerechnet die Freien Demokraten so streng sind mit dem invasiven, 1934 aus den USA importierten Tier, mag ihrer Klientel, den Jägerinnen und Jägern, geschuldet sein, hat aber auch gewiss mit der sphinxhaften Erscheinung des Subjekts zu tun. Hohes Aufregerpotenzial. Ihr Landtagsabgeordneter Jochen Haußmann etwa sagt, es handle sich um ein Raubtier, das "putzig, aber brandgefährlich ist". Er meint damit die Knopfaugen und die lustige Zorro-Maske auf der einen Seite, das ruchlose Aneignen von privatem Eigentum andererseits.

Sie klettern behänd an Regenfallrohren hoch, fressen sich durch Dämmungen, legen Ziegel frei, richten sich häuslich in Dachstühlen ein und feiern "zünftige Waschbären-Partys", wie einer ARD-Doku zu entnehmen ist, nach der man den kleinen Kerl gleich in einen warmen Wäschekorb betten will. Und wer ihm dazu noch die radikaldemokratische "Zeit" vorlesen will, wird ihn selig einschlafen lassen. Zitat Januar 2024: "Der Waschbär ist ein Punk, er ist ein Bürgerschreck. Klar, dass er in Deutschland Probleme hat. Weiter so!" 

Den 127 Stadtjägern, die zwischen Wildtier und Mensch vermitteln sollen, platzt der Kragen ob solcher Bilder. Tag für Tag habe er empörte Bürgerinnen und Bürger am Telefon, berichtet Ulrich Pfeffer, der Präsident des Verbands für urbanes Wildtiermanagement. Er betreut den Landkreis Göppingen. Die lustigen Partys sind teuer, 50.000 Euro für ein ramponiertes Dach sind keine Seltenheit, und der Stadtjäger soll dazu raten, den Kamin zu vergittern. Pfeffer weiß, dass es nicht lange dauern wird, bis der nächste Nachbar seinen Kropf bei ihm leeren wird. Prävention hat hier etwas sisyphusartiges an sich.

Ist ein Waschbär der Finger-Abbeißer?

Ein ganz besonderer Fall ist per Mail in der Kontext-Redaktion angekommen. Esther S. (Name von der Redaktion geändert) schreibt, ihr sei etwas passiert, "was man kaum glauben kann". Die Öffentlichkeit müsse das wissen. Vor zwei Wochen hat Kontext berichtet: Die 77-jährige Galeristin wohnt im Dachgeschoß eines mehrstöckigen Hauses im Heusteigviertel im Stuttgarter Süden. Davor steht eine Kiefer, deren Äste übers Dach ragen. Es sind heiße Tage, die Tür zum Balkon ist offen. Am Morgen des 15. August 2025 wacht sie mit höllischen Schmerzen auf. Am Mittelfinger ihrer rechten Hand fehlt das letzte Glied, der Arm weist Kratzspuren auf.

In der Notfallaufnahme eines Stuttgarter Klinikums wird sie versorgt, die Gewebeproben weisen auf Speichel eines Wildtiers hin. Welches Tier aber kann so gut klettern, greift eine schlafende Person an und hat die Kraft, einen Knöchel zu durchbeißen? Wenn es ein Waschbär war, wofür Vieles spricht, ist das der erste Fall einer schweren Verletzung durch diese Tierart in Deutschland.

Mit Esther S. könnte die Diskussion eine Wendung nehmen. Weg vom Kindchenschema, hin zum Problembären, der dem Menschen gefährlich nahekommt. Beim "Web-Talk" der FDP berichtet der Biologe Dorian D. Dörge vom aktuellen Stand, der sich auf eine jüngst veröffentlichte Studie der Universität Frankfurt stützt: Zwischen 1,6 bis zwei Millionen Waschbären werden in Deutschland gezählt. Allein in Kassel, Metropole der kleinen Räuber, sind es mindestens 10.000. Ein europaweit einmaliges Projekt soll jetzt Abhilfe schaffen: fangen, sterilisieren, laufen lassen. 20 Prozent weniger sollen es werden von einer Population, die nächtens rudelweise um die Häuser zieht. Schießen ist hier verboten.

Weiter draußen werden die Allesfresser ohne Feinde für die heimischen Tiere immer bedrohlicher, für Singvögel über Fledermäuse bis zu Erdkröten, deren giftige Haut sie abziehen, um an das leckere Muskelfleisch zu gelangen. Immer problematischer werden sie als Überträger von Infektionskrankheiten. Schon ist von Tollwut die Rede.

Bei der Nilgans wäre die Akzeptanz größer

Das größte Problem aber, folgt man Dörge, ist der Mensch. Er halte den Waschbären immer noch für possierlich, drollig und süß – und erschwere damit die notwendige Bejagung. Die Wissenschaftler sprechen hier von einem "emotionalen Narrativ", das sich auf "charismatische Tierarten" fokussiert, und damit den gesetzlich verankerten Artenschutz verletzt. Auch sie verlangen nach verstärktem Flinteneinsatz. Zu lange sei einfach nur zugeschaut worden, klagt Dörge. Er könnte aber auch fragen, welchen Anteil die Menschen, über ihr Bauchgefühl hinaus, an der Misere haben. Stichwort: Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft.

Schwieriges Terrain für eine mehrheitssuchende Politik. Einem Charisma das Fell über die Ohren ziehen, nach der Verantwortung fragen? Kostet Stimmen. Entsprechend einsilbig werden Volksvertreter wie der ewige CDU-Minister Peter Hauk, wenn sie nach einer "faktenbasierten, effektiven Waschbärstrategie" (FDP-Hoher) gefragt werden. Übrig bleibt die Ankündigung, die Schonzeit ganzjährig aufzuheben und die Tiere "intensiver zu bejagen". Das gelte auch für die Nilgans, schiebt der Forstwirt nach, und darf sich, wenigstens an dieser Stelle, einer breiteren Akzeptanz sicher sein. Bei den Spaziergänger:innen im vollgekackten Stuttgarter Schlossgarten beispielsweise.

Nach einem solchen Exkurs ist es schwer, eine Nützlichkeit des windigen Gesellen herauszustellen, die über seine Kulleraugen hinausgeht. Bereits erwähnt ist die Fellverwertung, die in Form von Jacken und Mützen eine lange Tradition hat. Im Wilden Westen trugen Filmhelden wie Old Firehand, der Freund Winnetous, Waschbärmützen als Markenzeichen. Handgefertigte Trappermodelle erzielen heute Preise von locker über 100 Euro.

Diffiziler ist es mit der Fleischverwertung. Ein Metzger aus Sachsen-Anhalt bietet Bratwürste an, das Kilo für 41,53 Euro und behauptet, sie seien ein Verkaufsschlager, er komme mit der Produktion nicht mehr nach. Der Deutsche Jagdverband sagt, das Fleisch sei hochwertig und habe Potenzial, während der Hessische Rundfunk, als Haussender im Epizentrum, berichtet, das Fleisch schmecke den Leuten nicht. Sie kämen einfach nicht über das Putzige hinweg. Zu süß, nicht im Geschmack auf der Zunge, als Erzählung im Bauch.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


6 Kommentare verfügbar

  • Klabauta
    am 22.09.2025
    Antworten
    Die Lebenserwartung eines in freier Wildbahn lebenden Tiers beträgt etwa 2-5 Jahre (in Gefangenschaft 15-20 Jahre). Waschbären haben eigentlich nie Schonzeit, da eine große Zahl dem Autoverkehr zum Opfer fällt und, Beispiel Hessen, zumindest Jungtiere ganzjährig bejagt werden dürfen. Eine…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:





Ausgabe 761 / Wenn Geduld und Kredit enden / Sabine Hofmann-Stadtländer / vor 2 Tagen 7 Stunden
Christoph Gröner: dr Benko aus'm Schwabenländle!

Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!