KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Kontext-Sommerserie

Raubtiere tragen heute Krawatte

Kontext-Sommerserie: Raubtiere tragen heute Krawatte
|

Datum:

Der Kapitalismus ist zum unstillbar gefräßigen Raubtier verkommen, das uns und sich selbst langsam, aber sicher auffrisst. Gedanken über ein Wirtschaftssystem, das Gewinne maximiert und Menschen marginalisiert.

Eine orange Schlange, die sich selbst auffrisst, ziert das Cover des Buches "Der Allesfresser: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt" (2023) der Philosophin Nancy Fraser. Obwohl vom Menschen selbst etabliert, beschreibt Fraser den Kapitalismus als Fressorgie, "deren Hauptgericht wir selbst sind". Eine Zähmung dieses gefräßigen Untiers sei unmöglich, denn in unserem aktuell vorherrschenden Raubtierkapitalismus zähle nur das Recht des Stärkeren und der Wille des Kapitals, denn Geld sei Macht. Empathie wird outgesourct (Stichwort: unbezahlte Care-Arbeit) – schließlich bringt sie keinen Ertrag –, während für größtmögliche Rendite Natur und Mensch ausgebeutet werden. Das seien keine Nebenerscheinungen kapitalistischer Wirtschaft, sondern zentral für eine globale kapitalistische Gesellschaft. Die diesem System zugrundeliegende Dynamik stetigen Wachstums und einer Profitmaximierung um jeden Preis sei kannibalistisch. So resümiert Fraser zum Buchende: "Antikapitalismus könnte – und sollte – […] zum zentralen Leitmotiv eines neuen Common Sense werden."

Warum Kapitalismus systematisch ungerecht ist und gar eine Gefahr für unsere Demokratie darstellt, zeigt sich auch in den folgenden acht Gedanken zum Thema.

1.  Demokratie gegen Bares

Deutschland ist eine Demokratie, steht zumindest so im Grundgesetz. Dass da aber einige Leute mit dicken Geldbündeln zwischen den Zeilen mitgeschrieben haben, wird gern überlesen. In einer Demokratie ist jede Stimme theoretisch gleichviel wert. In der Praxis aber lässt sich – mit genügend Kapital, versteht sich – Einfluss erkaufen. Das nennt sich in Deutschland dann nicht Korruption, sondern Lobbyismus. Klingt gleich viel seriöser. Kapitalist:innen, Großkonzerne und Interessengemeinschaften zahlen Millionen für Wahlkampagnen, schreiben Gesetze mit, drehen an Steuersätzen, organisieren diskrete Abendessen. Und wer sich all das nicht leisten kann? Tja, der darf alle vier Jahre ein Kreuzchen machen und dann hoffen, dass seine Interessen nicht unter einem Haufen Lobbybriefe begraben werden.

2.  Arbeiten kostet richtig Geld

Wenn du acht Stunden schuftest, pendelst, schwitzt und dich durch Meetings quälst, landet ein massiver Prozentsatz deines Gehalts bei Staat und Krankenkasse – normal und unumgänglich, schließlich sollen Schulen und Kitas, Straßen und Fahrradwege (ob in Deutschland oder Peru) gebaut werden. Bist du aber Privatier, arbeitest überhaupt nicht und gönnst dir eine dicke Aktien-Rendite durch Dividenden oder Kurssteigerungen, gibst du pauschal nur 25 Prozent ab, mit kreativer Buchführung auch weniger. Angeblich ist das gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland – aber nicht für seine Bürger:innen.

Geld verdient Geld. Arbeit verdient Müdigkeit. Das ist ungerecht und unsolidarisch. Wäre es gewollt, die breite Masse zu entlasten, könnte der Staat problemlos für mehr Netto vom Brutto sorgen – beispielsweise durch Steuersenkungen für niedrige Einkommen oder eine Erhöhung der Freigrenze, unter der man keine Einkommensteuer bezahlt. Von nicht-steuerlichen Entlastungen wie einer echten Mietpreisbremse ganz zu schweigen. Oder gar von einer Vermögenssteuer, die solche Entscheidungen gegenfinanzieren würde. Stattdessen ist der Kapitalismus darauf ausgelegt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, indem fleißig von unten nach oben umverteilt wird.

3.  Das BIP geht im Ausland shoppen

Für Wohlstand, Standort und Allgemeinwohl heißt es: "Der Wirtschaft muss es gut gehen!" Dabei landet das "gut gehen" oft ganz woanders. Weisen deutsche Konzerne einen Gewinn aus, gibt's fette Renditen für Aktionär:innen aus aller Welt. So fließt erwirtschafteter Profit durch Dividenden-Ausschüttungen auch in Steueroasen, Autokratien oder Kriegsparteien. Beispiel Siemens: Nur jede:r vierte Aktionär:in stammt aus Deutschland. Oder Volkswagen: Rund 10 Prozent der Aktien gehören über die Qatar Holding LCC dem Emirat auf der Arabischen Halbinsel und rund 18 Prozent weiteren ausländischen Anleger:innen.

Richtig pervers wird es, wenn Konzerne lukrative Subventionen einsacken und mit staatlicher Hilfe fette Gewinne einstreichen. Volkswagen hat während Corona etliches Personal in Kurzarbeit geschickt und Milliarden an Staatshilfen bekommen, um dann eine Rekord-Dividende auszuschütten. Damit wird von Bürger:innen verdiente Staatsknete mehr oder weniger direkt an Großkapitalist:innen aus aller Welt umverteilt – natürlich für das Allgemeinwohl, ist klar. Wir schuften für das Bruttoinlandsprodukt, und das BIP geht shoppen in Luxemburg. Oder New York. Oder Abu Dhabi. Das nennt sich neoliberaler Fortschritt.

4.  Von der Lüge, sozial schwach zu sein

Eine bestimmte Formulierung in Bezug auf Armut könnte die ein oder andere Person schon einmal wie eine defekte Glühbirne aus der Fassung geworfen haben: "sozial schwach". Das klingt fast so, als wären Leute konsequent unfreundlich, würden Rentner:innen umrempeln oder auf offener Straße süße Welpen treten. Dabei sind mit "sozial schwache" Menschen eigentlich "finanziell schwache" gemeint. Schließlich bedingen sich Geld und soziale Kompetenz nicht gegenseitig – auch kapitalistische Multimilliardäre können asoziale Arschlöcher sein, siehe Elon Musk. Doch würde man Arme "finanziell schwach" nennen, könnte der Eindruck entstehen, an steigender Armut sei statt des Individuums das Wirtschaftssystem schuld. Armut hängt von vielen Faktoren ab, weswegen es irreführend ist, wenig Geld zu besitzen als individuelle Schwäche auszulegen. Dann müsste Reichtum im Umkehrschluss eine individuelle Stärke sein, was sich nicht adäquat erschließt, denn Vermögen wird meist vererbt.

5.  Kaufen Sie jetzt Ihr Grundrecht

Eigentlich klingt es völlig logisch: Einige Dinge sind Grundrechte und sollten allen gehören – quasi Basics, damit niemand elendig verreckt: Wasser, Bildung, Strom, Gesundheit, Unterkunft, … . Aber im Kapitalismus kann man mit menschlichen Grundbedürfnissen und -rechten ordentlich Gewinn erwirtschaften. Das Zauberwort lautet "Privatisierung". Dinge, die allen gehören sollten, gehören einem Konzern. Weil, wie bei allem, die Preise auch hier steigen, sind diese Güter am Ende nicht mehr für alle da. Wer sich Leben als finanziell schwache Person nicht leisten kann, hat Pech. Privatisierung verspricht Effizienz. Tatsächlich wird effizient aussortiert: nach Einkommen.

6.  Viel Vermögen in den Händen weniger

Es gibt nahezu unendlich viele Berechnungen, um die Vermögensungleichheit sowie die auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich zu fassen – die globalisierte und vernetzte Welt macht es möglich. Das Vermögen in Deutschland ist sehr ungleich verteilt, wofür Expert:innen vor allem den Niedriglohnsektor, die geringen Abgaben für Erbe und Besitz sowie das unsolidarische Steuersystem verantwortlich machen. Allein die fünf reichsten Familien in Deutschland besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung und die oberen zehn Prozent besitzen rund 55 Prozent des Nettovermögens. Das reichste Prozent in Deutschland hat jeweils knapp 800.000 Euro oder mehr, ab einem Nettovermögen von rund 220.000 Euro zählt man bereits zu den reichsten zehn Prozent. Da lebt sich's komfortabel.

Viel Geld für nur wenige Menschen. Vor allem in Anbetracht dessen, dass rund 27 Prozent der Erwachsenen in Deutschland kein Vermögen besitzen oder (Vorsicht, neoliberaler Euphemismus) "negatives Vermögen" haben, sprich verschuldet sind. Dass der Kapitalismus die Vermögensungleichheit systematisch befeuert, ist weltweit sichtbar: Das reichste Prozent besitzt mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Super.

7.  Eine Krise, die keine ist

"Der Wirtschaft geht es schlecht", heißt es immer wieder, ob in Nachrichten, Talkshows oder persönlichen Gesprächen. Einsparungen, Verzicht und Entlassungen seien unvermeidbar, erzählen wichtige Herren in teuren Anzügen mit hässlichen Krawatten. Aber wessen Krise ist das eigentlich? Hört man den großen Konzernen zu, dann stehen sie (und der Wirtschaftsstandort Deutschland) gefühlt permanent am Abgrund. Wirft man jedoch einen Blick auf ihre Finanzzahlen, sieht das meist anders aus: Milliardengewinne, Rekord-Dividenden und Vorstandsprämien, so hoch, dass man sich davon eine eigene Krise kaufen könnte. In Wahrheit haben 2024 insgesamt elf Dax-Konzerne so viel verdient wie nie zuvor und alle 40 Dax-Konzerne zusammen einen Nettogewinn von 111 Milliarden Euro erzielt – 1,2 Milliarden mehr als noch 2023.

Irgendwann scheinen sich gewiefte Kapitalist:innen überlegt zu haben, wie sie Löhne und Sozialleistungen kürzen sowie Entlassungen rechtfertigen könnten, während sie zusätzliche Subventionen einsacken und weiter Kasse machen. Also schrien sie "Krise!", "Standortnachteile!", "Firmenflucht!". Während Medien das oft nachplappern, drücken sie neue Gesetze durch (dank Lobbyarbeit), die vor allem denen nutzen, die viel besitzen, und weniger denen, die im Niedriglohnsektor oder als Teil der Mittelschicht schwitzen. Für das Großkapital ist Krise, wenn es sich selbst nicht jährlich mehr Gewinn ausschüttet. Aber ist wirklich Wirtschaftskrise, wenn die Reichen auf Kosten des Proletariats immer reicher werden? Die wahre Krise unserer Gesellschaft ist eine Umverteilungskrise, die tagtäglich sichtbar wird. Wenn sie sagen, sie müssten Standort und Arbeitsplätze retten, dann meinen sie nicht wirklich dich und deinen Job, sondern ihre eigene Rendite.

8.  Wer Ungleichheit sät …

Wo Menschen verzweifeln, da wachsen Monster. Und das Monster, das am schnellsten wächst, hat einen altbekannten Namen: Faschismus. Die Verzweiflung vieler Menschen ist leicht erklärt, teils auch durch die vorangegangenen Gedanken. Wenn Miete die Hälfte des Einkommens frisst, die Heizung nur noch für Besserverdienende läuft und der Kontostand ständig im roten Bereich klebt, dann wird aus Unsicherheit schnell Verzweiflung. Und aus Verzweiflung wird Wut. Aber meist richtet sich diese nicht gegen die Systemprofiteure, sondern gegen die, die noch weniger haben als man selbst. Im Neoliberalismus wird schließlich gebetsmühlenartig propagiert, finanziell schwächere Menschen, Geflüchtete oder Bürgergeldempfänger:innen würden "uns" das Geld aus der Tasche ziehen. Im Hinblick auf Skandale wie "Cum-Ex" oder Steuervermeidungsstrategien des Großkapitals, die "uns" viel mehr kosten, wirkt das zynisch. Hauptsache, der Frust kann auf Migrant:innen, Arbeitslose oder irgendeinen schwächeren Anderen geschoben werden – möge sich das Proletariat in bester "Brot und Spiele"-Mentalität doch gegenseitig die Köpfe einschlagen. Denn solange niemand nach oben schaut, klingelt dort weiter die Kasse.

Faschismus ist kein Zufall, er ist Wachhund der Reichen. Wenn Menschen perspektivlos sind, wenn Angst und Hass billiger sind als Brot, dann braucht es nur noch ein paar Lügen im richtigen Moment, und der Rest erledigt sich von selbst. Konsequenterweise muss Antifaschismus auch immer Kapitalismuskritik heißen.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!