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Sucht und Islam

Leiden im Stillen

Sucht und Islam: Leiden im Stillen
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Im Islam gelten Alkohol und andere Drogen als Sünde, Sucht ist ein Tabu. Doch Sucht macht vor niemandem Halt – auch nicht vor religiösen Menschen. Wegen des Stigmas und fehlender Anlaufstellen leiden sie oft im Verborgenen. Ein Verein will Betroffenen und Angehörigen helfen.

In einer badischen Stadt, unweit von Karlsruhe, sitzt Selma* in ihrer Moschee. Es ist "ihre" Moschee, weil sie sich hier wohlfühlt, seit 25 Jahren ist sie ehrenamtlich aktiv. "Die Moschee tut mir psychisch sehr gut. Wenn ich drei, vier Tage nicht hierher komme, fehlt mir etwas." Das Gotteshaus ist ihr zweites Zuhause, sagt sie. Die 55-Jährige ist aufgeregt: Es ist das erste Mal, dass sie so offen über ihren suchtkranken Bruder Umut* spricht. Sie möchte anonym bleiben. Umut sitzt im Gefängnis – besser gesagt in der forensischen Psychiatrie. "Als die Polizisten ihn vor zwei Jahren mitgenommen haben, hat er sich bei ihnen bedankt", sagt sie. Umut sieht seine Verhaftung wegen Drogenhandels damals als Rettungsanker, allein hätte er den Ausstieg wohl nicht geschafft, erklärt Selma.

Hier in der Moschee erfährt sie 2017 von dem Doppelleben ihres jüngeren Bruders. Er sei nächtelang nicht nach Hause zu seiner Ehefrau und seinem Sohn gekommen. Irgendwann, als die Familie ihn bei einer Schleuse an einem Fluss vorfindet, offenbart er sich ihnen. Im Fitnessstudio fängt offenbar alles an. Erst nimmt er Aufputschmittel, später kommen andere Drogen hinzu, er beginnt selbst illegale Substanzen zu verkaufen. Als er sich als homosexuell outet, zerbricht seine Ehe. Wie ein Kartenhaus fällt alles in sich zusammen. "Ich konnte es lange nicht wahrhaben", sagt Selma. Der Kontakt zu ihm bricht ab.

Sucht trifft auch die Familien

Im oberen Stockwerk der hiesigen Moschee hat Selma, zwischen fröhlich-bunten Wandbildern und religiösen Schriften, an einem kleinen Schreibtisch im Klassenzimmer Platz genommen. Vor einer halben Stunde erhielt hier noch eine Gruppe Mädchen islamischen Religionsunterricht. Jetzt ist niemand mehr da. Die Stille legt sich wie eine schützende Hülle um Selma. Alles in diesem Klassenzimmer strahlt Unschuld aus, es wirkt wie ein harter Kontrast: Selmas Geschichte ist gespickt mit Schmerz, jahrelanger Verzweiflung und Isolation. Sucht betrifft nicht nur die Erkrankten, sie zieht weite Kreise. In deutschsprachigen muslimischen Gemeinden gibt es viele Suchterkrankte – jedoch keine statistischen Erhebungen dazu. "Ich kenne auch andere muslimische Familien aus unserer Stadt, die betroffen sind", sagt Selma.

Bis heute weiß offiziell niemand aus Selmas muslimischer Gemeinde von Umuts Suchterkrankung. "Aber wenn die Gemeindemitglieder von meinem Bruder wüssten, wären viele schockiert", vermutet sie. Es fehle an Aufklärung über psychische Gesundheit – und damit an einem Bewusstsein über Sucht als Krankheit. Dabei seien Spiritualität und Psyche eng verknüpft, sagt sie.

"Mein Bruder war schon immer religiös. Er hatte immer Kontakt zur Moschee und zur Religion, hat mitorganisiert. Später hat er sich von allem distanziert. Ich weiß nicht, warum." Inzwischen habe er wieder zum Glauben gefunden, sagt Selma strahlend. Beide haben sich wieder angenähert. Er hat sie um eine muslimische Seelsorge gebeten. Ein Jahr lang hat Selma gesucht, bis sie mithilfe des Vereins Al Mudmin fündig geworden ist.

Muslimische Ehrenamtliche bieten Anlaufstelle

Über ihren Imam lernte sie vor gut einem Jahr Lukas Müller kennen. Er ist Sozialpädagoge, selbst Muslim und hat mit einigen anderen Expert:innen Al Mudmin gegründet. Bundesweit beraten und unterstützen muslimische Ehrenamtliche aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Soziale Arbeit und Seelsorge Suchtkranke und Angehörige. Therapien bietet der Verein nicht, er dient eher als sichere Anlaufstelle, wobei vieles online abläuft. Noch hat der Verein keine Räume, sammelt Spenden dafür.

Für ein Gespräch reist Müller nach Stuttgart. Er sitzt auf einer hölzernen Bank unter einem großen Baum in Bad Cannstatt, zwischen dem Rathaus und der Stadtkirche. Im Hintergrund spielen fröhliche Kinder, Menschen schlendern und joggen vorbei, und ein Mann mit muslimischer Gebetskette raucht einen stark riechenden Joint. Müller hat sich intensiv mit der menschlichen Psyche und der Entstehung von Süchten auseinandergesetzt. Die Arbeit von Al Mudmin bezeichnet er als Pilotprojekt. "Wir sind die ersten im deutschsprachigen Kontext, die so offen über Sucht sprechen. In anderen Ländern gibt es muslimische Initiativen oder Betroffene, die in der Öffentlichkeit stehen, das haben wir alles hier nicht", erklärt Müller. Er wirkt gelassen, aber auch nachdenklich, wenn er spricht. Immer wieder schaut er in die Ferne. Ihn begleitet das Thema Sucht schon lange – nicht nur in seiner Arbeit.

"Ich habe viel konsumiert in meiner Vergangenheit", erzählt der 33-Jährige. Ebenso sein Vater: Oft musste Müller ihn nachts "irgendwo aufsammeln" und oft stand die Polizei vor der Haustür. Diese Erfahrungen veranlassten ihn, selbst dagegen etwas zu tun. "Du hast da diesen Menschen, den du liebst, und kannst ihm nicht helfen. Du guckst dabei zu, wie sich dieser Mensch selbst umbringt. Das ist unglaublich schmerzhaft." Seine Kindheit und Jugend sind geprägt von Ohnmacht. Dann findet Lukas Müller Halt im Glauben. Als junger Mann konvertiert er zum Islam. Als er mit 18 oder 19 erstmals mit muslimischen Communities in Kontakt gekommen ist, sei Alkohol- und Drogenkonsum kein Thema gewesen. "Nach dem Motto 'wir haben hier unsere heile Welt'. Aber ich habe ihnen das nicht abgekauft", erzählt er lachend.

Viele muslimische Suchtkranke führen Doppelleben

Er habe oft miterlebt, wie viele muslimische Suchtkranke Doppelleben führten. "Das war bei mir auch Realität. Es gab einige Erlebnisse, wofür ich mich auch sehr schäme", sagt er. Seine Suchtvergangenheit möchte er nicht vertiefen.

Hinter dem Gefühl der Scham stecke oft die Sorge vor Ausgrenzung, erläutert er. "Wenn du über so etwas wie Sucht sprichst, wirst du ausgeschlossen. Wenn ich mich authentisch äußere, riskiere ich die Beziehung", so Müller. Entweder in der Moschee oder im engsten familiären Umfeld. "Klassisch ist: Du bist nicht mehr mein Kind!" Es sei gefährlich, diese Ignoranz religiös zu begründen, erzählt der Sozialpädagoge. "Wenn du dir anschaust, wie sich der Prophet Muhammad verhalten hat, war es ganz anders. Es geht um Barmherzigkeit und eine nicht zu verurteilende Haltung, er hat nie jemanden ausgeschlossen".

Auch Umut hat sich jahrelang geschämt. "Für seine Situation und dass er etwas Schlimmes gemacht hat. Aber er konnte da nicht raus", erzählt Selma. Schließlich gelten Drogen als große Sünde im Islam. Bei Betroffenen kann das auf Dauer zu einer Selbst-Stigmatisierung führen, also zu Denkmustern wie "Ich bin ein schlechter Muslim, ein schlechter Mensch". Diese Selbstgeißelung führt im schlimmsten Fall zu einem Teufelskreis aus sozialem Rückzug und weiterem Substanzmissbrauch.

Skepsis gegenüber Psychotherapie

Über Sucht und mentale Erkrankungen zu sprechen ist eine Sache, sich aktiv Hilfe zu suchen, eine andere. In der psychologischen Beratung gelte ein Säkularisierungs-Dogma, erklärt Lukas Müller. Gott und Glaube hätten darin wenig Platz. Bei Al Mudmin berücksichtigen die Ehrenamtlichen religions- und kultursensible Themen in der Beratung.

Diese Haltung wird inzwischen in immer mehr Einrichtungen praktiziert, wie etwa im Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus. "Es ist wichtig, das auf dem Schirm zu haben", erläutert Psychotherapeutin Regine Lehrer im Gespräch mit Kontext. In der psychotherapeutischen Landschaft sei ein kultursensibler Ansatz noch nicht verankert, sagt sie. Ihre Kollegin Fatima Zohra Aaryun begleitet viele muslimische Patient:innen auf der Palliativstation. "Da muss einem bewusst sein, dass die emotionale Sprache und das Weltbild vielleicht anders sind", sagt die Psychotherapeutin. Der migrantische oder religiöse Hintergrund dürfe nicht zu sehr im Vordergrund stehen und gleichzeitig nicht ignoriert werden. Ein sensibler Balanceakt.

"Viele muslimische Patient:innen lehnen das Angebot für psychologische Hilfe auf der Station ab. Vielleicht denken sie: 'Die werden mich sowieso nicht verstehen oder ernst nehmen.' Ich merke, dass da oft eine Skepsis ist", sagt Aaryun.

Es tut sich etwas

Muslim:innen und Migrant:innen sind besonders vulnerable Gruppen, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Zum einen aufgrund von einschneidenden Erfahrungen wie Krieg, Flucht oder Migration. Zum anderen wegen Rassismus und Diskriminierung. "Das ist immer ein Angriff auf das psychische und auch das körperliche Erleben. Stress und Trauma manifestieren sich im Körper. Ausgrenzungen und Mikroaggressionen sind eine ständige Attacke auf das Nervensystem", erklärt Regine Lehrer. Auch Identitätskonflikte und transgenerationelle Traumata führten zu Labilität, sagt Fatima Zohra Aaryun.

Zusammenfassend lassen sich also zwei Problembereiche festmachen: Einerseits die Stigmata in muslimischen Communities und andererseits das Misstrauen gegenüber einem Gesundheitssystem, in dem sich Betroffene und Angehörige nicht verstanden fühlen. Inzwischen tut sich aber etwas in vielen muslimischen Communities. Es gebe immer mehr Imame aus Deutschland, die über mentale Gesundheit aufklären, sagt Selma. Sie selbst organisiert in der Moschee Kurse und Infoveranstaltungen zum Thema Psyche.

Selma hat sich nicht in eine Psychotherapie begeben, um mit der Sucht ihres Bruders klarzukommen. Ihr hat der Glaube Kraft gegeben sowie ihr Ehemann, erzählt sie unter Tränen. Umut ist aktuell noch in der forensischen Psychiatrie, macht aber Fortschritte, sagt seine Schwester. "Inschallah", so Gott will, wird alles gut.


* Name geändert

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