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Paule Club Stuttgart

"Früher war hier nichts"

Paule Club Stuttgart: "Früher war hier nichts"
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Sie haben mehr oder weniger früh zu Drogen gegriffen, den Boden unter den Füßen verloren – und ihn wiedergefunden: Iva, Simon und Marvin. Heute helfen sie mit dem Paule Club unter der Stuttgarter Paulinenbrücke anderen Drogenabhängigen.

Weihnachten haben sie nicht gefeiert. "Für alle Suchtkranken", sagt Iva, "ist Weihnachten eine beschissene Zeit. Die meisten haben keinen Rückhalt durch ihre Familie." Immerhin: An der Weihnachtfeier des Projektes "Supp Optimal" der Stuttgarter Bürgerstiftung beteiligten sie sich dann doch. Und am Samstag vor Weihnachten verteilten sie Pizza am Paule Club – "Die doppelte Menge wie sonst" – und feierten eine kleine Bescherung. Willy Schmidt, der gemeinsam mit seiner Frau versucht, suchtkranken Menschen in Stuttgart zu helfen, spielte Mundharmonika.

Simon, Iva und Marvin leiten den Paule Club. Die Bretterbude, früher ein Crêpes-Stand, steht unter der Paulinenbrücke, nicht weit vom Österreichischen Platz. Gegründet haben ihn Iva und Marvin wenige Tage nach dem ersten Corona-Lockdown im März 2020. Schnell stieß Simon hinzu, der zuvor im "Sleep Inn" gearbeitet hatte, einer Einrichtung für Notübernachtungen drogenabhängiger Menschen der Caritas. "Ehe wir den Paule Club aufgemacht haben", sagt Simon, "war hier nichts."

Nun gibt es den Club, verteilen Simon, Iva und Marvin gemeinsam Essen und Kleidung an die Menschen, die sich unter der Brücke treffen. "Supp Optimal", der Verein Helfende Hände e.V., die Heilsarmee, die Gastrokette Yormas, teils auch örtliche Gastronomen wie das Café Galao oder Claus Eismanufaktur & Deli unterstützen sie mit Spenden. Kleidung erhalten sie oft von Privatpersonen. Bis zu 60 Personen gehören zur Szene um den Paule Club, selten stoßen neue Gesichter dazu. Wenige Meter von der Brücke entfernt befindet sich ein kleiner Garten, ein eingefasstes Gelände, auf dem viele Steine liegen: Sie erinnern an die Toten.

"Seit Beginn der Pandemie", sagt Simon, "haben wir etwa 35 Leute verloren. Das ist der höchste Stand seit mehr als 20 Jahren." Todesfälle, deren Ursache eine Überdosis Heroin ist, sind selten. Treten sie doch auf, handelt es sich entweder um unerfahrene Konsumenten oder um solche, die bewusst Schluss machen wollten. Aber auch das ist selten. "In Stuttgart", sagt Iva, "ist das Zeug nicht so gut." Häufigere Todesursachen sind Folgekrankheiten der Sucht oder Wechselwirkungen von mehreren Drogen oder Medikamenten, die konsumiert werden.

"Es gibt hier Leute, die nehmen einfach alles", sagt Iva. "Fentanyl ist ja wirklich lebensgefährlich, aber sie kochen die Pflaster aus und spritzen sich das. Es gibt viel gepanschtes Zeug, Medikamente, Koks und Heroin, und manchmal wissen die Leute gar nicht, was sie da spritzen." – "Kürzlich", erzählt Marvin, "starb einer der Kollegen vom Club. Ein anderer hatte bei ihm übernachtet, ging morgens zum Arzt und als er zurückkam, war er tot. Er hatte einen Alkoholentzug gemacht, wollte unbedingt runter vom Alkohol, und wahrscheinlich hat er deshalb Benzos genommen."

Fentanyl ist ein synthetisches Opiat, dessen Wirkung 100-mal stärker ist als das von Morphin und das stark suchterregend ist. Es wird eingesetzt in der Intensivmedizin, der Anästhesie, der Notfallmedizin und der Schmerztherapie. "Benzos" ist der Name der Szene für Benzodiazepine, starke Beruhigungsmittel, die in Deutschland dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, in bestimmten Mengen aber auf Rezept abgegeben werden können. In hohen Dosierungen und in Wechselwirkung mit anderen Wirkstoffen können sie zum Atemstillstand führen.

"Es gibt zwei Arten von Suchtkranken", sagt Simon. "Die einen wollen ehrlich raus aus dem Ganzen und würden alles dafür tun. Den anderen ist alles scheißegal, und das sieht man ihnen an. Sie haben abgeschlossen mit sich und der Gesellschaft, weil die Gesellschaft sie im Stich gelassen hat. Meistens werden solche Leute gerade so alt wie ich es bin."

Kein Zuhause und die falschen Freunde

Simon ist 47. "Meine Mutter war jung und naiv", sagt er. "Sie hat sich in Mannheim einen GI geschnappt, und so kam ich zur Welt." Nach fünf Jahren in den USA trennten sich die Eltern, Mutter und Sohn gingen nach Mannheim, Simon kam zu den Großeltern. Als der Großvater starb, ging es mit ihm bergab. "Ich hatte begonnen zu kiffen, das Heroin kam erst später. Ich trieb noch Sport, denn das war meinem Großvater wichtig." Simon ist 1,90 Meter groß, er kann sich durchsetzen – aber gerade das brachte ihm kein Glück. "Es hat nur dazu beigetragen, dass ich in die falschen Kreise kam."

Schnell wurde Simon auch straffällig. "Ich war mehrfach im Knast wegen meiner Sucht", sagt er. "Ich habe insgesamt 13 Jahre meines Lebens unter der Kontrolle anderer Menschen verbracht." In Mannheim hatte Simon eine Partnerin, er hat Kinder. Als das Paar sich trennte, kam er vor acht Jahren nach Stuttgart – drogenfrei. "Zuerst war ich in Stuttgart völlig isoliert. Die Paulinenbrücke kannte ich noch von früher. Also habe ich mich dort ein wenig behauptet. Und so kommt es, dass ich hier bin." Als er hörte, was Iva und Marvin gestartet hatten, dachte er sich: "Das ist die beste Art, den Leuten zu helfen."

Iva wurde in Kroatien geboren, wuchs abwechselnd dort und in Heilbronn auf. Als sie zehn Jahre alt war, starben zwei ihrer Geschwister bei einem Verkehrsunfall. Das Trauma zerstörte die Familie: "Meine Mutter war mit ihrer Trauer beschäftigt, mein Vater auch. Und mit dem Alkohol." Die Drogenszene wurde für sie zu einer zweiten Familie. Erst wurde gekifft, später kamen härtere Drogen dazu. "Ein Gramm Heroin und das war dann das Desaster. Man denkt, man hat es unter Kontrolle, aber das ist eine ganz andere Nummer. Das schaltet einfach das Hirn aus und alle Probleme sind weg. Deshalb gewöhnt man sich auch so rasch daran", erzählt die 39-Jährige.

Mit 21 hatte sie begonnen, Heroin zu nehmen. Sie zog nach Stuttgart, um von ihrem Freundeskreis loszukommen. "Die erste Zeit ging es gut, ich habe einen kalten Entzug gemacht, ohne ärztliche Begleitung einfach aufgehört, ein paar Wochen gelitten. Aber dann trifft man Leute, die man eigentlich nicht treffen will, aber man trifft sie trotzdem. Ich habe es mir wirklich vorgenommen, ich habe gearbeitet, alles war ganz normal." 2017 wurde bei Iva Multiple Sklerose diagnostiziert. "Das war auch wieder so ein Brett. Es hat mich zurückgeworfen, depressiv gemacht. Dann habe ich meinen Schatz kennengelernt."

Iva und Simon sind verlobt. Sie leben seit einem Jahr zusammen in einer Wohnung, unbetreut. "Es wird uns so schwer gemacht", sagt Simon. "Ich kann verstehen, wenn andere keine Wohnung wollen. Suchtkranke nimmt man nicht ernst." Iva muss nicht nur mit ihrer Sucht, sie muss auch mit ihrer Krankheit klarkommen. Wie Simon und Marvin ist sie substituiert, ohne Beikonsum anderer Drogen. Zur Substitution wird seit den 1990er Jahren vor allem Subutex verwendet. Der enthaltene Wirkstoff heißt Buprenorphin und schaltet ohne Nebenwirkungen die Sucht aus. Freilich: Auch Subutex muss regelmäßig eingenommen werden, sonst verschlechtert sich das Befinden der Patienten schnell.

Marvin wuchs in Stuttgart auf. Er begann mit elf Jahren zu kiffen, mit 15 kam der Alkohol dazu. Er hatte Probleme zu Hause, war schlecht in der Schule, musste ins Heim, zog wieder zur Mutter, bekam Schwierigkeiten mit seinem Stiefvater, flog bei der Mutter wieder raus. Mit 17 nahm er zum ersten Mal Heroin, Kokain schon früher. "Ich hatte einen Arbeitsunfall, bin auf der Straße gelandet, dann bei der Caritas, dann im Jugendarrest, dann in der Substitution." Nun ist er 36 und ist wie Simon und Iva stabiler als viele in der Szene.

Sie glauben, Wehrpflicht hätte ihnen geholfen

Woher das kommt? "Ich glaube, das liegt viel an der Erziehung", sagt Iva. "Bei mir war sie streng. Man hat mir immer gesagt: Sei aufrichtig, sei ehrlich, schade niemandem. Und das habe ich auch immer so gehalten. Ich habe immer nur mir selbst geschadet. Aber ich bin auch später zum Heroin gekommen. Andere fangen mit 15, 16 an oder schon mit 13. Da ist die Entwicklung noch nicht so weit und sie bleiben dort stehen."

"Viele in der Szene sind 30 Jahre alt und verhalten sich immer noch so, als ob sie 14 wären", sagt Simon. "Ein erwachsener Mann, der sich so benimmt, kommt natürlich nicht gut an in der Gesellschaft." Simon bedauert es, dass in Deutschland die Wehrpflicht abgeschafft wurde. Dabei ist er entschiedener Kriegsgegner: "So ein Krieg", sagt er, "versaut immer mehrere Generationen." Aber er wünscht sich, etwas hätte ihm in seiner Jugend Halt und Struktur gegeben, geholfen, erwachsen zu werden. Auch Iva sagt: "Ich wäre gerne zur Bundeswehr gegangen."

Unter der Brücke verteilen Iva, Simon und Marvin auch Spritzen. In Stuttgart gibt es zwei Spritzenautomaten: am High Noon Kontaktcafé in der Lazarettstraße und in der Kriegsbergerstraße. Beide Automaten sind fast immer leer. Apotheken verkaufen Spritzen in Stuttgart nur in größeren Gebinden, weshalb die Suchtkranken gerne Spritzen teilen – so breiten sich HIV und Hepatitis stärker unter ihnen aus.

"Das Spritzen", sagt Simon, "ist eine Sucht für sich. In der Szene spricht man von Nadelgeilheit." Iva weiß: "Manche Leute spritzen sich auch Wasser, wen sie nichts mehr haben, nur um die Nadel zu spüren. Mich hat das immer abgeschreckt. Wäre ich an der Nadel gelandet, wäre ich sicher schon tot. Ich bin sehr stolz auf Simon, weil er es geschafft hat, von der Nadel loszukommen. Das ist schwer."

Simon hat lange ohne Ausbildung im hauswirtschaftlichen Bereich gearbeitet, für Heime und Krankenhäuser, hat nebenher online Kleidung in Übergröße verkauft. Iva ist gelernte Kfz-Mechatronikerin. Marvin hat eine Fleischerlehre abgebrochen. Alle drei sind sie ohne Beschäftigung – als Suchtkranke kommen sie in Arbeitsverhältnissen immer wieder in Schwierigkeiten. Eine Substitutionsbehandlung vor Arbeitgebern geheim zu halten, ist langfristig nicht möglich, denn die erfordert täglichen Arztbesuch. Auch mit Sozialarbeitern haben sie schlechte Erfahrungen gesammelt: "Wenn da einer sitzt, der ein Arsch ist, dann bist du dem hilflos ausgeliefert." 80 Prozent der Menschen, die sie kennen, sagen sie, drehten sich immer nur im Kreis.

Heute sorgen sie für mehr Sicherheit

Die drei Ex-Junkies bemühen sich darum, unter der Paulinenbrücke für Ordnung zu sorgen – mit Erfolg. "Seit wir da sind, wurde es viel angenehmer für die Passanten", sagt Iva. "Es gibt weniger Diebstähle und die Polizei ist seltener da. Vor einigen Jahren war das noch schlimm, da fuhr sie hier einmal mit drei großen Wägen vor und alle mussten sich strippen. Aber nun müssen wir sie gelegentlich selbst rufen. Vor einiger Zeit ist eine Frau ausgeflippt, die aus einer Klinik kam, sie hat Passanten angegriffen."

Und so behaupten sie sich nun zu dritt unter der Paulinenbrücke. Sie haben ihre Zweifel, aber sie geben nicht auf, denn einen anderen Weg gibt es für sie nicht. Die Passanten gehen vorüber am Paule Club, die Hunde der Junkies streunen umher, einer steht da und hält mit zitternden Fingern ein Stück Zigarettenpapier hoch, sieht nicht, wo sich die Klebefläche befindet. Es bleibt schwer. "Warum", sagt Simon, "sollten Leute wie wir versuchen, zu einer Gesellschaft zurückzufinden, die aus Tausenden von Widersprüchen besteht?" Die Frage stellt sich jeden Tag.

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2 Kommentare verfügbar

  • Iva Paule Club
    am 17.01.2024
    Antworten
    Ah ja nur weil ein Sucht-kranker aus Hamburg sagt, daß er Spaß am Konsum hat oder hatte muss es natürlich für alle Suchtkranke gelten? Fällt ihnen nicht auf wie anmaßend und vorverurteilend ihre Meinung ist? Suchtkranke Menschen gibt es in jeder Gesellschaftsschicht, es gibt süchtige Bankleiter,…
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