Vergleichbar mit den Tintenklecksen eines Rorschachtests soll das Unbewusste greifbarer werden durch das, was bei der Anschauung hervorsticht: Welche Details und Symbole fallen zuerst auf? Und was verrät das über das Auge, in das sie springen? Laut Fiebig befördere die Auseinandersetzung mit den eigenen Innenansichten das Wachstum als Persönlichkeit: "Zunächst einmal bringt es einen enorm weiter, wenn wir täglich ebenso viel Aufwand für die Traumzeit wie für die Brotzeit betreiben und uns mit derselben Selbstverständlichkeit wie die tägliche Körperpflege auch eine tagtägliche Seelenpflege gönnen."
Kehrseite der offenen Interpretationen ist die relative Beliebigkeit. Teils klingen Erläuterungen etwas horoskopig, beispielsweise bei der Bedeutung des "Ass der Kelche" für soziale Interaktionen: "Du teilst deine Gefühle mit und genießt die Erfüllung, die du erfährst." Einerseits gibt es gewisse Handreichungen, etwa dass das Symbol des Stabs für das Element des Feuers steht. Allerdings heißt es wörtlich unter den Tipps für Profis: "Die möglichen Bedeutungen der Karten sind unendlich." Für Fiebig ist damit "bereits das Größte und gleichzeitig auch das Schwierigste über die Deutungskunst in der heutigen Zeit gesagt. Es gibt keine Vorschriften mehr, und gleichzeitig liegt alles vor unseren Augen." Diese Herangehensweise ist allerdings so ziemlich das Gegenteil der klassischen Hellseherei: Statt einer Autorität, die einer ratsuchenden Person die Zeichen deutet, damit sich diese in ihr Schicksal fügen kann, ist die Auslegung Angelegenheit eines aktiv handelnden Subjekts.
Zwischen Hochstapelei und Tiefenforschung
Über die Esoterik als Ideologie schrieb Jutta Ditfurth einmal, dass sie "ein übelriechender Eintopf aus geklauten, ihrem sozialen und kulturellen Zusammenhang entrissenen Elementen aus allen traditionellen Religionen" sei und faschistische Wurzeln habe. Das passt sicherlich auf die Nazis der Marine, die 1942 allen Ernstes versuchten, die Position feindlicher Schiffe mithilfe von Pendeln auszuloten. Doch gemessen an den mitunter sehr pointierten Ansichten, die im Meinungsstreit geäußert werden, ist verblüffend unklar, was genau eigentlich unter Esoterik zu verstehen sei. Eine wissenschaftlich anerkannte Definition gibt es nicht. So steht der Begriff heute für eine kolossale Quacksalber-Industrie, die mit Betrugsprodukten wie wirkungslosen Wundersalben Milliarden umsetzt und Leichtgläubigen gefährlichen Unsinn einredet. Historisch geht der Begriff allerdings auf den recht vernünftigen Aristoteles zurück und heißt einfach nur "nach innen gerichtet".
Einen Teil seiner Werke verfasste Aristoteles für ein großes Publikum, das auch ohne viel Vorwissen Chancen haben sollte, die Überlegungen zu verstehen. Als Gegenstück zu diesen "exoterischen" Schriften prägte Cicero ein paar hundert Jahre später den Begriff "esoterisch" für jene Texte, die eine philosophische Bildung voraussetzen und nicht jeden Fachterminus erläutern. Mit der Zeit verselbstständigte sich das Gerücht vom geheimen Wissen, das lediglich mit einem erlesenen Kreis von Eingeschworenen geteilt werden dürfe. Der moderne Okkultismus, der sich in Europa ab dem 19. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit erfreute, war dann allerdings tatsächlich krampfhaft bemüht, sich selbst zu mystifizieren durch ostentative Geheimniskrämerei.
"Das Tarot" wiederum entzaubert den Okkultismus, indem es unter dem weit gefassten Überbegriff alle Bestrebungen subsumiert, die etwas Verborgenes zum Vorschein bringen wollen. Mit etwas Kreativität kann darunter sogar die moderne Naturwissenschaft verstanden werden, die Gravitation nachweist, obwohl sie noch nie jemand gesehen hat. Oder eben der Versuch, einen Zugang zur eigenen Psyche zu finden, die ja auch kein ganz leicht greifbarer Gegenstand ist. "Der Schlüssel zum Tarot", schrieb Waite 1910 in einem kleinen Büchlein, das begleitend zum neuen Deck veröffentlicht wurde, seien die Fragmente einer Tradition unter dem "Schleier der Weissagung". In diesem Fall ist die Hellseherei eher ein Deckmantel, der Interesse weckt, um mit Hilfe einer mystischen Kulisse zur Selbstreflexion anzuregen.
Johannes Fiebig (Hg.): "Das Tarot von A. E. Waites und P. Colman Smith", Taschen Verlag, 444 Seiten, 100 Euro.
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Reinhard Gunst
am 04.01.2024