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Das Tarot

Der Deckmantel der Weissagung

Das Tarot: Der Deckmantel der Weissagung
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Kontext-Ausgabe 666 liefert den Vorwand für eine Annäherung an das Okkulte: Die Neuerscheinung "Das Tarot" erzählt die Geschichte zu dem berühmten Kartensatz von Arthur Edward Waite und Pamela Colman Smith – und ist bei der Deutung näher am Rorschachtest als an der Hellseherei.

Wer heute schon weiß, was morgen passiert, hängt die Wäsche nicht raus, bevor der Regen kommt. Entsprechend nachvollziehbar erscheint das menschliche Streben, die Zukunft vorhersagen zu wollen. Aber wie wünschenswert wäre es eigentlich, falls das tatsächlich klappt? Wenn das, was kommt, schon feststeht, ist dann noch Platz für Geist und freien Willen? Und wäre der Mensch in diesem Fall mehr als eine Art Zahnrad oder ein Drehorgelstift in einer hochkomplizierten, aber prinzipiell berechenbaren Kettenreaktion?

Im Ringen mit dem jahrtausendealten Rätselraten, ob es das Schicksal gibt, erreichte die Kontext-Redaktion in der Vorweihnachtszeit ein Angebot des auf Kunst spezialisierten Taschen-Verlags, das Orientierung verspricht: Ein "Wegweiser zum Jahreswechsel" beleuchte "die bis heute einflussreichsten Tarotkarten der Welt". Normalerweise wäre die Idee einer Rezension in unserer hochseriösen Wochenzeitung schnell verworfen worden. Doch das Veröffentlichungsdatum des Buches passt perfekt zur Ausgabe Nummer 666, die obendrein während der Rauhnächte erscheint. Also gut, Universum. Zumal die Vorstellung, womöglich Zugriff auf Zukunft zu erhalten, einfach zu verlockend ist. Erst recht im Journalismus, wo es ja bekanntermaßen viel zählt, große Neuigkeiten vor der Konkurrenz zu melden.

Daher herrscht große Aufregung in der Redaktion, als kurz vor Weihnachten das Paket ankommt. Einmal ist da das Buch selbst: "Das Tarot von A. E. Waite und P. Colman Smith", knapp 450 Seiten, etwas größer als Din A4, mit über 800 Abbildungen. Druck- und Papierqualität wie auch die Haptik sind hervorragend, was zu einem hohen Preis führt: 100 Euro kostet die Publikation, herausgegeben von dem Psychologen Johannes Fiebig, mit Beiträgen von Robert A. Gilbert, Mary K. Greer und Rachel Pollak. Im Lieferumfang enthalten ist außerdem ein Deck mit Karten, als Faksimile des Tarots von 1910, das Pamela Colman Smith unter Supervision von Arthur Edward Waite illustriert hat.

Eine Kollegin wagt den Praxistest und zieht als Schicksalskarte den "Ritter der Stäbe" – wobei sie sich nicht so recht einen Reim darauf machen kann, was dieser gepanzerte Mann auf seinem Pferd mitten in der Wüste mit einer "Karotte" will (als solche interpretiert sie den Stab des Ritters). Laut Buch sei eine traditionelle wahrsagerische Deutung dieser Karte: "Sie werden eine große Reise machen." Und tatsächlich. Nur einen Tag später bricht die Kollegin auf nach Italien, wo vor etwa 600 Jahren das erste Tarotdeck dokumentiert worden ist (und ihre Familie Weihnachten feiert).

Doch wie sich bei der Lektüre schnell herausstellt, sind die vermeintlich prophetischen Qualitäten des Kartenlegens in dieser Publikation zweitrangig. Statt billigem Budenzauber bietet das Buch eher nüchterne Aufarbeitung. Es entmystifiziert sogar. So wird ein Befund der Spielkartenforscher Michael Dummett und John McLeod angeführt: "99 von hundert [Befragten] glauben, dass [Tarotkarten] zum Wahrsagen oder zu okkultistischen Zwecken erfunden wurden. Doch diese Vorstellung ist ganz falsch." Die Ursprünge der Tradition sind weitaus mondäner als gemeinhin angenommen. Belege für die von französischen Mystikern verbreitete Behauptung, die Karten hätten ihre Wurzeln schon im alten Ägypten, gibt es keine. Stattdessen handelt es sich nach aktuellem Forschungsstand um eine genuin europäische Erfindung: nicht um die Geheimnisse von morgen zu entschleiern, sondern um sich beim Kartenspiel die Zeit zu vertreiben.

Die Arbeit der Frau blieb ungewürdigt

Die Neuigkeit bestand darin, dass die traditionellen Motive der Zahlen- und Hofkarten ab dem 16. Jahrhundert um Trümpfe, die sogenannten großen Arkana, ergänzt worden sind: Passend zu den Leitgedanken der Renaissance porträtieren diese meist handelnde Figuren des weltlichen Geschehens – vom Narren bis zur Herrscherin. Dazu heißt es im Buch: "Die Herkunft der 22 Karten der großen Arkana ist keineswegs 'ungeklärt' (widersprüchlich zu vielen Internetverlautbarungen und Tarotbüchern), sondern in vielen Details dokumentiert und bekannt."

Neben ausführlichen Erläuterungen zu den Symbolen jeder einzelnen Karte enthält "Das Tarot" auch kurze Abrisse zu den Lebenswegen von Arthur Edward Waite und Pamela Colman Smith. Waite war eigentlich ein Katholik auf der Suche nach der Vereinigung mit Gott. "Der plötzliche Tod seiner Schwester im Jahr 1874 führte dazu, dass er sich von der christlichen Orthodoxie entfernte und sich zunehmend der Introspektion zuwandte." Seine Begeisterung für Zeremonien und Symbolik blieb ungebrochen, er gilt als Experte auf den Gebieten. 1891 wurde Waite Mitglied im okkultistischen "Hermetischen Orden der Goldenen Morgenröte", den er zwei Jahre später verließ, um 1886 wieder einzutreten und nach der Spaltung des Ordens 1903 die Leitung einer Nachfolgeorganisation zu übernehmen.

"Waite war sicherlich die treibende Kraft bei der Erstellung der Bilder des Tarotdecks", heißt es im Buch. Lange Zeit verkannt wurde der Anteil von Pamela Colman Smith, von der die heute berühmten Illustrationen zum "populärsten Tarot der Welt" stammen. Obwohl sie die insgesamt 78 Karten mit Zeichnungen versehen und koloriert hat, fehlte ihr Name lange auf der Packung. Noch heute ist der deutschsprachige Wikipedia-Artikel lediglich als "Waites-Tarot" benannt, eine Neuauflage des Tarotdecks von 1971 hieß hingegen "Raider-Waites-Tarot", um den Londoner Verlag Rider & Son zu ehren, in dem die erste Auflage erschien. Für Smith war es eine beschwerliche Auftragsarbeit: Das Deck entstand innerhalb von fünf Monaten, sie selbst sprach von einem "großen Job für sehr wenig Geld".

Herausgeber rät zur Körper- und Seelenpflege

Größeren Raum nimmt im Buch der Einfluss des Tarots auf die Popkultur ein, etwa im 1973 erschienenen James-Bond-Film "Live and Let Die". Darin hätten die Karten von Waite und Smith eine wichtige Rolle gespielt: "Allerdings völlig klischeehaft und langweilig; wenn die Karte Tod gezogen wurde, musste im Film bald jemand sterben."

Was die Karten alles sagen und vorhersagen sollen, ist auch innerhalb der Tarotszene umstritten. Und während manche Schulen klare Dogmen unterrichten, ist der von Herausgeber Fiebig verfolgte Ansatz weniger doktrinär. "Was das Tarot betraf, so gab es die Kabbala, Astrologie, Geomantie, Zahlenlehren, indische Tattvas (Daseinsebenen) und viele weitere Lehrgebäude, die in die Karteninterpretation eingriffen und Vorschriften zur Bildbedeutung beinhalteten", schreibt er. Das Deck von Waite und Smith sei hingegen absichtlich uneindeutig und lasse entsprechend eine Vielzahl persönlicher Interpretationen zu. Fiebig, der Sozialwissenschaften, Geschichte und Psychologie studierte, stellt in diesem Zusammenhang einen Ansatz vor, der weniger spirituell und esoterisch wirkt als vielmehr psychoanalytisch: Entscheidend ist nicht, was eine bestimmte Autorität in eine Karte hineindeutet, sondern was die Betrachter:in darin erkennt.

Vergleichbar mit den Tintenklecksen eines Rorschachtests soll das Unbewusste greifbarer werden durch das, was bei der Anschauung hervorsticht: Welche Details und Symbole fallen zuerst auf? Und was verrät das über das Auge, in das sie springen? Laut Fiebig befördere die Auseinandersetzung mit den eigenen Innenansichten das Wachstum als Persönlichkeit: "Zunächst einmal bringt es einen enorm weiter, wenn wir täglich ebenso viel Aufwand für die Traumzeit wie für die Brotzeit betreiben und uns mit derselben Selbstverständlichkeit wie die tägliche Körperpflege auch eine tagtägliche Seelenpflege gönnen."

Kehrseite der offenen Interpretationen ist die relative Beliebigkeit. Teils klingen Erläuterungen etwas horoskopig, beispielsweise bei der Bedeutung des "Ass der Kelche" für soziale Interaktionen: "Du teilst deine Gefühle mit und genießt die Erfüllung, die du erfährst." Einerseits gibt es gewisse Handreichungen, etwa dass das Symbol des Stabs für das Element des Feuers steht. Allerdings heißt es wörtlich unter den Tipps für Profis: "Die möglichen Bedeutungen der Karten sind unendlich." Für Fiebig ist damit "bereits das Größte und gleichzeitig auch das Schwierigste über die Deutungskunst in der heutigen Zeit gesagt. Es gibt keine Vorschriften mehr, und gleichzeitig liegt alles vor unseren Augen." Diese Herangehensweise ist allerdings so ziemlich das Gegenteil der klassischen Hellseherei: Statt einer Autorität, die einer ratsuchenden Person die Zeichen deutet, damit sich diese in ihr Schicksal fügen kann, ist die Auslegung Angelegenheit eines aktiv handelnden Subjekts.

Zwischen Hochstapelei und Tiefenforschung

Über die Esoterik als Ideologie schrieb Jutta Ditfurth einmal, dass sie "ein übelriechender Eintopf aus geklauten, ihrem sozialen und kulturellen Zusammenhang entrissenen Elementen aus allen traditionellen Religionen" sei und faschistische Wurzeln habe. Das passt sicherlich auf die Nazis der Marine, die 1942 allen Ernstes versuchten, die Position feindlicher Schiffe mithilfe von Pendeln auszuloten. Doch gemessen an den mitunter sehr pointierten Ansichten, die im Meinungsstreit geäußert werden, ist verblüffend unklar, was genau eigentlich unter Esoterik zu verstehen sei. Eine wissenschaftlich anerkannte Definition gibt es nicht. So steht der Begriff heute für eine kolossale Quacksalber-Industrie, die mit Betrugsprodukten wie wirkungslosen Wundersalben Milliarden umsetzt und Leichtgläubigen gefährlichen Unsinn einredet. Historisch geht der Begriff allerdings auf den recht vernünftigen Aristoteles zurück und heißt einfach nur "nach innen gerichtet".

Einen Teil seiner Werke verfasste Aristoteles für ein großes Publikum, das auch ohne viel Vorwissen Chancen haben sollte, die Überlegungen zu verstehen. Als Gegenstück zu diesen "exoterischen" Schriften prägte Cicero ein paar hundert Jahre später den Begriff "esoterisch" für jene Texte, die eine philosophische Bildung voraussetzen und nicht jeden Fachterminus erläutern. Mit der Zeit verselbstständigte sich das Gerücht vom geheimen Wissen, das lediglich mit einem erlesenen Kreis von Eingeschworenen geteilt werden dürfe. Der moderne Okkultismus, der sich in Europa ab dem 19. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit erfreute, war dann allerdings tatsächlich krampfhaft bemüht, sich selbst zu mystifizieren durch ostentative Geheimniskrämerei.

"Das Tarot" wiederum entzaubert den Okkultismus, indem es unter dem weit gefassten Überbegriff alle Bestrebungen subsumiert, die etwas Verborgenes zum Vorschein bringen wollen. Mit etwas Kreativität kann darunter sogar die moderne Naturwissenschaft verstanden werden, die Gravitation nachweist, obwohl sie noch nie jemand gesehen hat. Oder eben der Versuch, einen Zugang zur eigenen Psyche zu finden, die ja auch kein ganz leicht greifbarer Gegenstand ist. "Der Schlüssel zum Tarot", schrieb Waite 1910 in einem kleinen Büchlein, das begleitend zum neuen Deck veröffentlicht wurde, seien die Fragmente einer Tradition unter dem "Schleier der Weissagung". In diesem Fall ist die Hellseherei eher ein Deckmantel, der Interesse weckt, um mit Hilfe einer mystischen Kulisse zur Selbstreflexion anzuregen.


Johannes Fiebig (Hg.): "Das Tarot von A. E. Waites und P. Colman Smith", Taschen Verlag, 444 Seiten, 100 Euro.

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2 Kommentare verfügbar

  • Reinhard Gunst
    am 04.01.2024
    Antworten
    Der Text mit der Zahl 666 im 13. Kapitel der Offenbarung ist ein metaphysisches Rätsel, das wohl jenseits der profanen Heavy Metal Music angesiedelt ist. Wie die gesamte Bibel ein zahlensymbol-isches Konstrukt ist, so ist es natürlich ganz besonders die Zahl 666 und in der verbirgt sich dann die…
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