Wobei die neueste Aktion mehrere Ebenen hat. "In 'Peitschen' geht es natürlich auch um diese unsägliche Verkehrssituation, diesen Albtraum von Architektur und Verkehr", sagt Hülsewig. Also auch um Kritik an den Strukturen unserer Mobilität – denn in ihnen materialisieren sich Machtstrukturen und damit wieder Rollenverhalten: "Das Auto, Sinnbild für rücksichtsloses Vorwärtsstreben, ist Instrument der Macht, Wirtschaftszweig, entwickelt und verteidigt von weißen Männern, die den gemeinsamen Raum fast vollständig dominieren", erklärt sie.
Zugleich gehe es aber auch um feministische Fragen, um weibliche Selbstermächtigung: "Mich hat interessiert: Wie tauchen Frauen im Stadtbild auf? Wie ermächtigen sich Frauen? Und wie sieht eine mächtige Frau aus?" Zum Beispiel wie eine Politikerin. Und so trifft nun ein Machtsymbol und -instrument weißer Männer, das Auto, auf den Zorn einer Frau, deren Attribute und Verhalten ihrerseits von Macht erzählen. Denn auch das Peitschen selbst, diese "offensive körperliche Geste", so Hülsewig, "drückt Macht aus, ist laut, nimmt Raum ein, ist gefährlich, ist im Zusammenhang mit Weiblichkeit oft sexuell konnotiert, braucht viel Kraft und Durchhaltevermögen und kann lustvoll wie verstörend wirken". Wobei Hülsewig selbst ein wenig verstört war, als Passanten sie fragten, "ob die Peitsche für Tiere oder für Menschen ist".
Das Kulturamt genehmigt's, das Ordnungsamt nicht
Fast ein Wunder, dass bei soviel Irritationspotential niemand wegen Hülsewigs und Kemmners Aktion die Polizei rief. Darauf vorbereitet und entsprechend vorsichtig waren die beiden jedenfalls, da die Aktion eigentlich illegal war. Was wiederum eine herrliche Absurdität ist, wenn auch eine ungeplante. "Die Stadt Stuttgart hatte eine Ausschreibung gemacht für das Festival 'FemPalais'", darauf habe sie sich mit "Peitschen" beworben, und für Performances wie diese gibt es beim Kulturamt der Stadt einen neuen Förderzweig namens "Kunst im öffentlichen Raum". Das Kulturamt genehmigte und förderte Hülsewigs Aktion, "ich dachte, damit ist es safe", aber es zeigte sich mal wieder: Beim Verkehr hört der Spaß in Stuttgart auf. Das Amt für öffentliche Ordnung versagte die Genehmigung.
"Wir haben es dann einfach trotzdem gemacht", erzählt Hülsewig. Neben ihr und dem filmenden Kemmner war noch als Dritter ein Schmieresteher dabei, der eventuell aufkreuzende Polizei im Blick haben sollte. Die Ordnungshüter fuhren dann tatsächlich mehrmals vorbei, doch rechtzeitig vorgewarnt hatte Hülsewig die Peitsche stets schon unauffällig zusammengelegt. Und für eine auf Verkehrsinseln stehende Businessfrau interessiert sich die Polizei nun mal weniger als für auf der Straße klebende Aktivist:innen in Warnwesten.
Potentiell problematisch auch: die Peitsche an sich. Denn die gilt in Deutschland als Waffe, obwohl sie herumzutragen erlaubt ist. Und zu bestimmten Anlässen ist auch erlaubt, dass eine ganze Stadt mit der Peitsche knallt wie im Rahmen der Rottweiler Fasnet beim traditionellen Narrensprung. Über den hat das Stuttgarter Künstlerinnen-Duo Sigrun Köhler und Wiltrud Baier alias "Böller & Brot" 2021 den Dokumentarfilm "Narren" gedreht, und der war für Hülsewig eine Inspiration. "Da dachte ich mir: Das will ich auch!", erzählt sie. So richtig sagten die in Rottweil gängigen Exemplare ihr aber nicht zu, "ich wollte schon, dass es aussieht wie bei Indiana Jones". Also bestellte sie sich ein Exemplar via Internet aus den USA. Das passte.
Das Video der Aktion ist nun seit dem gestrigen Dienstag bis Freitag sowohl im Foyer des Stadtpalais Stuttgart zu sehen, im Rahmen von "FemPalais – Festival der Frauen*", als auch von 6 bis 21 Uhr an den Infoscreens der Haltestelle Charlottenplatz, also eine Etage unter dem Ort der Performance. "Mir ging es auch darum, dieses unsägliche Verkehrsbauwerk auf allen Stockwerken zu bespielen", sagt Hülsewig. Auch hier also: vielschichtige Kunst.
Nana Hülsewig auf Instagram und auf Youtube.
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Sven Schindler
am 28.06.2023