Eine alltägliche Szene im Edelkaufhaus Breuninger in Stuttgart-Mitte: Eine attraktive Mittfünfzigerin in hellblauer Bluse, Blazer und Blingbling steht am Schminkstand von Chanel und dreht sich einen knallroten Lippenstift zum Testen heraus. Sie sieht nach Geld aus. Könnte eine erfolgreiche Managerin sein. Vielleicht auch eine Personalerin, die einen beim Vorstellungsgespräch mit demselben Stoizismus verbal in den Boden rammt, mit dem sie nach dem Meeting einen Espresso in perfektem Italienisch ordert. Sie setzt den Lippenstift vor dem Spiegel an und beginnt, sich das komplette Gesicht rot anzumalen – bis auf die Lippen. Seelenruhig. Als wäre es das Normalste der Welt. Nach etwa vier Minuten ist sie fertig. Betrachtet selbstgerecht ihr Werk und wandelt stilsicher mit der Kriegsbemalung durch die Menschenmenge Richtung Ausgang. Was um Himmels willen war das denn?
"Niemand hat mich angesprochen oder rausgeschmissen", erzählt die Stuttgarter Künstlerin Nana Hülsewig belustigt von ihrer Performance "Die schönen Dinge des Lebens". "Wäre ich nicht so schick angezogen gewesen und hätte mir die Verhaltenscodes im Breuninger nicht genau abgeschaut, wär ich sofort rausgeflogen." Ist sie aber nicht. Und an diesem Punkt sei die Aktion ein Erfolg. Hülsewig ist erster Teil des Stuttgarter Künstler*innen-Duos NAF. Der andere Teil ist Fender Schrade – er hat die Intervention gefilmt und legt Wert auf das Gender-Sternchen, denn es ist Ausdruck dessen, was beide hinterfragen wollen: Rollen. Nicht die, die es mit Lachs gefüllt neben dem Piano-Man in der Karlspassage von Breuninger gibt. NAF haben sich auf soziale Rollen eingeschossen. Die, die wir spielen, wenn wir einkaufen, arbeiten, Mann, Frau, Eltern, Single oder Pärchen sind, auf die Bank gehen oder einfach nur an der Bushaltestelle sitzen. Schon Simone de Beauvoir wusste: Man wird nicht als Frau geboren, man wird es. Doch bei NAF geht es nicht nur um Frauen.
Hülsewig und Schrade haben sich lange angeschaut, wie Menschen im öffentlichen Raum agieren. Wie sie sich organisieren. Welche Handlungen sie wo und wie ausführen und normierten Verhaltenscodes unterworfen sind. Dann gehen sie unangemeldet in Shoppingmalls oder an öffentliche Plätze und konfrontieren ihre Mitmenschen mit Verhaltensweisen, die als paradox empfunden werden. Gleichzeitig gibt das aber Aufschluss darüber, was als "normal" gilt. Was "normale" Menschen an so einem Ort, als Frau, als Mann, eigentlich nicht tun. Ja, warum eigentlich nicht in einem schicken Einkaufszentrum in Leipzig einfach mal mit weißer Hotelbettwäsche auf den Boden legen und schlafen, bis der Handywecker klingelt? Auch hier wirkt es völlig gaga, wenn sich Schrade – in schicker cremefarbener Hose und gebügeltem Hemd – nach ermüdender Shoppingtour unvermittelt auf den Boden vor die Rolltreppen legt, die teuren Sneaker akkurat nebeneinanderstellt, die persilreine Bettwäsche zurechtzupft und ein Nickerchen macht. Kurz darauf gesellt sich Hülsewig dazu, im Louis-Vuitton-Chic gekleidet, als würden sich die beiden nicht kennen. Die meisten Mall-Besucher*innen laufen um sie herum und wundern sich. Zwei Jugendliche fragen, warum sie sich auf den Boden legen. "Ich bin so müde", sagt Hülsewig knapp. Würden beide nicht nach Kohle riechen, hätte man sie herauskomplementiert. Da ist sich das Duo sicher.
Dass bei NAF auch immer Körper im Mittelpunkt stehen, zeigen sie eindrucksvoll mit einer weiteren Performance im Bankenviertel oberhalb des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Als Banker*innen getarnt, mischen sich die beiden zur Mittagszeit unter die pausierenden Krawattenträger und werden urplötzlich von unsichtbaren Angreifern heimgesucht. Wie in Hitchcocks "Die Vögel" rauft sich Hülsewig die Haare, während ihr Kollege sich schützend die Hände vor die Kronjuwelen hält und panisch um sich schaut. Dann fallen beide zu Boden. "Unsere Themen kreisen immer auch um Verletzbarkeit und Scheitern, beides ist für Männer im öffentlichen Raum völlig tabu", sagt Schrade, der seit 2003 als Mann lebt. Als im September vergangenen Jahres der BMW-Chef Harald Krüger bei einem Termin auf der Automesse IAA in Frankfurt mit einem Kreislaufkollaps zusammenbricht, steht die Männerwelt für einen Augenblick lang still. Auch NAF hat die mediale Aufmerksamkeit des Zwischenfalls beeindruckt. "Ich glaube, an dem Tag sind sogar die BMW-Aktien leicht gefallen", lacht Schrade und streicht sich lässig die Locken zurück.
3 Kommentare verfügbar
Ronald Ransik
am 05.10.2016bis heute hatte ich den Eindruck, dass es der Zeitung mit den grossen Buchstaben vorbehalten sei, notfalls einen Satz ohne Zusammenhang zum übrigen Text interpretiert zu wissen.
Mit Ihrer jetzt wiederholten Aussage, suggerieren Sie eindeutig einen inhaltlichen Zusammenhang (...wie…