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Straßennamen in Tübingen

Clara Zetkin in übler Gesellschaft

Straßennamen in Tübingen: Clara Zetkin in übler Gesellschaft
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In Tübingen gibt es eine Debatte über Knoten. Schuld daran ist eine Kommission zur Überprüfung der Straßennamen. Und die hat einen Problemfeld-Teppich um die Sozialistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin ausgerollt.

Im Tübinger Ortsteil Lustnau findet sich die Clara-Zetkin-Straße. Seit 1985 erinnert sie dort an die unermüdliche Kämpferin für den Frieden und die Rechte der Frauen. Geboren 1857 mit dem Namen Eißner in Sachsen konnte sie sich in Leipzig zur Lehrerin ausbilden lassen, wo sie ihren Lebensgefährten Ossip Zetkin, einen russischen Revolutionär, kennenlernte. Sie organisierte sich in der Arbeiterbewegung, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zählten zu ihren engsten Freunden. Die Zeitschrift "Die Gleichheit", die sie leitete, wurde Sprachrohr der proletarischen Frauenbewegung. Wie sie selbst.

1907 wurde sie auf der von ihr in Stuttgart organisierten "I. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz" zur Leiterin des "Internationalen Frauensekretariats" bestimmt. Bei der nächsten Frauenkonferenz in Kopenhagen im Jahr 1910 rief sie mit ihren Genossinnen den "Internationalen Frauentag" ins Leben, einen Kampftag für die Forderungen nach Gleichberechtigung, Demokratie, Frieden und Sozialismus. Zum ersten Mal begangen wurde er 1911 unter dem Motto "Heraus mit dem Frauenwahlrecht!". Bis heute wird er gefeiert.

So weit, so gut. Jedoch: Der Pfosten des Straßenschildes mit dem Zetkinschen Namen soll eine "gesonderte Markierung" erhalten. Eben einen Knoten. Aus dem 3-D-Drucker. Als Signal für die Vorübergehenden: Obacht, hier stimmt etwas nicht. Ein ausführlicher Kommentar, warum die Verdickung vorgenommen wird, soll beigefügt werden. Ja, was hat die Frau denn getan? Ganz einfach: Clara Zetkin ist in üble Gesellschaft geraten.

Der Tübinger Gemeinderat hat im April 2021 eine "Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen" eingesetzt. Die Historiker sollten die Namensgeber wissenschaftlich prüfen, "weil sie biografisch im Zusammenhang mit Antisemitismus oder Kolonialismus" standen, "Mittäter oder Profiteure des NS-Regimes" waren oder "aus anderen Gründen heutigen gesellschaftlichen, ethischen oder politischen Maßstäben nicht mehr" genügten. Eine "vergleichende Gesamtschau" sollte die Frage beantworten, welche Straßen umbenannt oder nur mit einer Erläuterungstafel versehen werden sollten.

Totalitarismus-Gespenst in einem Knoten manifestiert

Im Januar 2023 legte die Kommission Gemeinderat und Ortschaftsräten eine Handlungsempfehlung der Kommission vor, die als Entscheidungshilfe dienen sollte. Die Stadt hat nie so recht Glück gehabt mit ihren Ehrenbürgerschaftsverleihungen und Straßenbenennungen. Ein schwer belasteter SS-Mann wie der langjährige Oberbürgermeister Hans Gmelin konnte nicht Ehrenbürger bleiben. Straßen wurden bisher schon umbenannt. Übrig blieben aber immer noch einige braune oder anderweil verdächtige Figuren.

Auch Paul Schmitthenner zum Beispiel. Der Schmitthennerweg liegt im Ortsteil Kilchberg. Der "Heimatschutzarchitekt" trat 1933 in die NSDAP ein, baute Haus um Haus für den "neuen Staat", gegen Ende des Raubkriegs, im August 1944, nahm der Führer den Mann in die "Gottbegnadeten-Liste" der wichtigsten Baumeister auf, als unentbehrlich für den weiteren Verlauf der Welteroberungspläne.

Neben diesen Mann wird Clara Zetkin gestellt. Siehe da, das Totalitarismus-Gespenst manifestiert sich in Tübingen in einem harten Knoten. Man könnte auf den Gedanken kommen, die Kommission habe überlegt: Jetzt haben wir so viele Rechte auf dem Knoten-Kieker, da muss sich doch wohl auch eine Linke beigesellen lassen. Damit die Waage halbwegs ausgelastet ist. Die Hufeisenenden sich zusammenfinden.

Im "ethischen Problemfeld"-Teppich, den sie um die Zetkin ausrollen, warnen die Kommissionsmitglieder vor den Stolperfallen "Demokratiefeindlichkeit" und "Mitwirkung an Justizverbrechen".

Gut, in der "Abwägung und Empfehlung der Kommission" heißt es zunächst, Zetkin sei seit den 1880er Jahren zunächst in der Sozialistischen Arbeiterpartei, dann in der SPD aktiv gewesen. Als "überzeugte Pazifistin" habe sie 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt, im Spartakusbund und der USPD gekämpft und sei mehrfach in "Schutzhaft" genommen worden. Sie trat in die KPD ein. In den Jahren 1919/20 war sie Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung Württembergs, eine der ersten Frauen, die in einem deutschen Parlament sprechen konnten.

Danach bis 1933 Mitglied des Reichstags, Präsidentin der Internationalen Arbeiterhilfe, Mitglied im Zentralkomitee der KPD und so fort. Und "noch kurz vor ihrem Tod im Juni 1933 warnte sie in ihrer Funktion als Alterspräsidentin des Reichstags vor den Gefahren des Nationalsozialismus", so die Kommission. So wie sie das ja in der Weimarer Republik unablässig getan hatte.

Die Kommission will vom Knoten nicht ablassen

Das alles freilich, denkt man sich, kann doch noch keinen Knoten rechtfertigen. Aber nun kommt’s! Im "ethischen Problemfeld"-Teppich warnen die Kommissionsglieder vor den Stolperfallen "Demokratiefeindlichkeit" und "Mitwirkung an Justizverbrechen". Denn "moralisch kritikwürdig" sei ihre Person vor allem deshalb, weil "sie das gewaltsame Vorgehen der sowjetischen Machthaber gegen Oppositionelle nicht nur öffentlich verteidigte, sondern aktiv unterstützte". So habe sie im Sommer 1922 "als Anklägerin im Moskauer Schauprozess für die (letztlich nicht vollstreckte) Todesstrafe gegen eine Gruppe sogenannter Sozialrevolutionäre" plädiert.

"Im Kern" sei die Argumentation Zetkins "totalitär" gewesen, den "später vollzogenen Übergang zur stalinistischen Verfolgungspolitik" vorwegnehmend. "Allerdings befürwortete Zetkin anschließend auch, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wurde." Offensichtlich ging es Zetkin doch "eher um die Symbolisierung revolutionären Rechts als um dessen Vollstreckung".

Immerhin! Aber vom Knoten will die Kommission nicht ablassen. Bei ihren Erkenntnissen stützt sie sich vor allem auf eine durchaus fragwürdige Biographie Zetkins, die, vor zwanzig Jahren erschienen, von der Historikerin Tânia Puschnerat, Abteilungsleiterin beim Bundesamt für Verfassungsschutz, verfasst wurde.

Nicht nur Linke in Tübingen sind überzeugt, dass die Knoten-Empfehlung dem Wirken Zetkins keineswegs gerecht wird. Vielmehr werde sie "auf eine Bewertungsstufe mit Nazis, mit Militaristen, Rassisten und Kolonialisten" gestellt. Hat nicht die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sie als eine "Wegbereiterin der Demokratie im Südwesten" bezeichnet?

Ein Aktionsbündnis mit Namen "Kein Knoten für Zetkin" hat sich gebildet, will den Fall angemessen untersuchen, stellt umfangreiches Recherchematerial zur Verfügung, erhält Unterstützung durch die IG Metall und andere Organisationen. Zetkins Wirken werde bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, man kritisiert die selektive Anwendung der eigenen Kommissionskriterien etwa im Fall der unbeknotet bleibenden Herren Wilhelm I. und Bismarck oder auch bei Gertrud Bäumer, die verkündete, für die Frauenfrage sei es "vollkommen gleichgültig", ob der Staat demokratisch oder faschistisch sei.

Viele Tübinger sagen nein zur Zetkin-Verknotung

Das Nein! vieler Menschen zur Tübinger Zetkin-Verknotung beflügelt auch anderweitig. Wer Tübingen verlässt und sich Richtung Hohenzollern begibt, kommt nach Mössingen. In jene Kommune, die durch eine einzigartige Widerstandsaktion gegen die Machtübernahme durch die Faschisten im Januar 1933 in die deutsche Geschichte einging: indem fast ein Viertel der Bevölkerung dem Generalstreik-Aufruf der KPD-Landesleitung folgte. Nach dem "Fabrikanten und Wirtschaftsfachmann" Otto Merz sen. (1886-1964) ist hier eine Straße benannt.

Merz ist der Mann, der am 31. Januar das bewaffnete Überfallkommando nach Mössingen holte. Er drängte zuerst Bürgermeister Karl Jaggy, der lehnte ab und riet Merz, sich doch bitte zu beruhigen, einfach seinen Hut aufzusetzen und auf der Olgahöhe spazieren zu gehen. Das tat Merz freilich nicht, er hängte sich an die Strippe. Bald darauf marschierten Gummiknüppel und Pistolen auf, die Aktion wurde niedergeschlagen, mehr als 90 Streikende kamen vors Gericht.

Auf dem Platz der Fabrikantenvilla, die 2015 abgerissen wurde, steht heute das hässlichste Gebäude Mössingens: eine Blechkarossen-Hölle, genannt "Parkhaus-Mitte". Stadträtin Claudia Jochen und Vertreter der "Linke im Steinlachtal/LiSt" haben aus Anlass einer Stadtführung eine Umbenennung vorgenommen. Auf der Tafel, die dabei angebracht wurde, stand: "Otto-Merz-Parkhaus. Wer die Polizei holt, wenn es gegen Hitler geht, hat nichts Besseres verdient, als Namensträger eines solchen Auspuff-Domizils zu werden."

Den besonnenen Bürgermeister Jaggy übrigens setzten die Nazis, einmal an der Macht, umgehend ab, als seinen Nachfolger bestimmten sie Gottlieb Rühle, Mitglied der NSDAP von 1933 bis 1945. Hernach wurde gar eine Schule nach ihm benannt. Auch in Mössingen gibt es Einwohner, die das nicht länger ertragen wollen. So viele Parkhäuser gibt es nun auch wieder nicht. Was tun? Mal sehen. Über die aktuelle Tübinger Knotenlage informieren kann man sich auf der Homepage der Stadt, der Kommissionsbericht kann dort eingesehen werden.


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4 Kommentare verfügbar

  • Roman
    am 18.04.2023
    Antworten
    Da ist wohl ein Druckfehler-Teufelchen am Werk gewesen:

    Danach bis 1933 Mitglied des Reichstags, Präsidentin der Internationalen Arbeiterhilfe, Mitglied im Zentralkomitee der KPD und so fort. Und "noch kurz vor ihrem Tod im August 1932 warnte sie in ihrer Funktion als Alterspräsidentin des…
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